„Dann verwandle ich mich in einen Klarinettisten“, hat Richard Galliano vor Jahren einmal in einem NMZ-Interview („Dann verwandle ich mich in einen Klarinettisten“: Richard Galliano im Interview | nmz – neue musikzeitung) gesagt, als er die Vielseitigkeit und Wandlungsfähigkeit seines Instruments – des Akkordeons – analysierte. Auch beim Jubiläumskonzert im ausverkauften Münchner Prinzregententheater, bei dem der französische Akkordeonist zusammen mit Paolo Fresu aus Sardinien (Flügelhorn/Trompete) und dem schwedischen Pianisten Jan Lundgren 20 Jahre „Mare Nostrum“ – ihr gemeinsames, höchst erfolgreiches und sehr beliebtes Trioprojekt – feiern, geht es immer wieder um Verwandlung. Und um Musik als dem vielleicht flüssigsten, stärksten, unmittelbarsten Medium der Verwandlung und des Erzeugens von Stimmungen und Gefühlen.
Für „Belle-Île-en-Mer“ zaubert Richard Galliano, dieser Magier des Akkordeons, aus langen und leisen Tönen eine zwischen Impressionismus und Lautmalerei wechselnde Stimmung am Meer herbei: Er lässt sein Instrument im Rhythmus eines freundlichen Meeres atmen, plätschern und schnaufen, gerade so als ob sanfte Wellen an den Bühnenstrand des Prinzregententheaters schlagen würden. Schließt man die Augen, wähnt man sich auf Gallianos „Belle-Île-en-Mer“. Man imaginiert, man hört eine kleine Insel, wahrscheinlich in Gallianos südfranzösischer Heimat – so wie auch dieses Trio seit 20 Jahren mit den Mitteln der Musik und der Improvisation ihr „Mare Nostrum“ herbeiimaginiert. „Mare Nostrum“, das sind drei Spitzenmusiker, die sich darauf verlegt haben, aus ihren Einflüssen und Wurzeln ein paneuropäisches Meer zu erschaffen. Ein Meer, das es so nur in und durch die Musik geben kann: so flüssig, so weit und so schön wie das Meer. Ein Meer aus Tönen, die von dem musikalischen Werdegang dieser drei Musiker und ihrer Begegnung erzählen: von der Improvisation des Jazz, von schwedischer und sardischer Folklore, vom Jazz als einem Medium der Verschmelzung, von französischen Musette-Walzern, den großen Emotionen französischer Chansons und italienischer Canzonen….
Galliano als Multiinstrumentalist
Galliano sitzt im Prinzregententheater nicht nur in der Mitte der Bühne, er markiert auch musikalisch so etwas wie die wandungsfähige Mitte des Trios: mal compt er wie ein Jazzpianist, mal lässt er sein Akkordeon mächtig wie eine Kirchenorgel brausen, häufig wird er – gerade in den kunstvoll variierten Codas – in den allerhöchsten Registern seines Instruments so leise, als ob sich Töne in Licht verwandeln ließen. In manchen Stücken wie dem seiner Enkelin zugeeigneten „Lili“ bläst Galliano sein Melowtone (https://melowtone.com/en/melowtone-en/), eine Art Mundharmonika mit Akkordeon-Tasten, auf der Galliano wie ein Klarinettist oder Saxophonist klingt.
Während Paolo Fresu zu Gallianos Linken mit seidenmatt schattiertem Flügelhorntönen den Triosound einjazzt und sich den Staffelstab der Melodien äußerst gekonnt mit Galliano teilt, wirkt Jan Lundgren am Flügel zu Gallianos Rechten wie ein kunstvoll zurückhaltender Orchestrator des Ganzen.
Der Zusammenklang von Akkordeon und Flügelhorn spielt immer wieder mit Momenten der klanglichen Verschmelzung, bevor sich Gallianos Akkordeon und Fresus Flügelhorn wieder voneinander lösen. Manche Stücke – oft jene aus Fresus Komponieren – haben einen Hang zum Sakralen, der mit unnötig viel Hall überbetont wird. Als wäre man bei einem Konzert von Jan Garbarek in einem Kirchenraum – und nicht bei „Mare Nostrum“ im Prinzregententheater.
Melodietrunkene Erzählungen
Die Musik von „Mare Nostrum“ ist melodietrunken, auch in der Improvisation, die oft nah an der Melodie bleibt, sie variiert oder umspielt, um nach einem kurzen Ausflug des Improvisierens wieder zur Melodie oder einer Variation derselben zurückzukehren. Oft hat sie etwas Filmisches, manchmal zeichnet sie Klanggemälde, Miniaturen, Ton-Poeme, die kleine Geschichten erzählen: wie Jan Lundgrens „Man in the Fog“, das die schwedischen Nebel um einen am Bahnhof wartenden Mann wallen lässt.
Mit „la plus belle Chanson française“ – kurzes Raunen des Publikums – und dem Verweis auf Edith Piaf kündigt Galliano einen der Konzerthöhepunkte an: „La Vie en Rose“ in einem Bossa-Nova-Arrangement. Und auch später sind es die großen Filmsongs und Chansons, die es zum Songklassiker und zum Jazzstandard gebracht haben, die im weiteren Verlauf die ganz großen Höhepunkte eines berauschenden Konzertabends markieren: Michel Legrands „The Windmills of your Mind“ und als erste Zugabe „Que reste‐t‐il de nos amours?“ (Musik: Léo Chauliac/ Text: Charles Trenet), eine der besten und schönsten Interpretationen, die dem Trio in den 20 Jahren seines Musizierens gelungen ist.
Ganz zum Schluss – das Publikum lässt nicht locker – verabschiedet sich „Mare Nostrum“ mit „Si dolce è il tormento“, das Paolo Fresu charmant als Monteverdis San Remo-Song ankündigt. Und so verklingt ein wunderschöner Abend, der aber auch schmerzlich eines in Erinnerung ruft: das schöne, friedliche, licht- und musikdurchflutete Europa, das „Mare Nostrum“ seit 20 Jahren als künstlerische Utopie und Idee besingt und feiert – dieses Europa ist 2025 gefährdeter denn je.
Text: Claus Lochbihler
Neues Album: Paolo Fresu, Richard Galliano & Jan Lundgren: Mare Nostrum IV (ACT, Erscheinungstermin: 28.3.2025)
20 Jahre „Mare Nostrum“ – die nächsten Konzerttermine in Deutschland, Liechtenstein und der Schweiz:
09.04.2025 Paolo Fresu, Richard Galliano, Jan Lundgren DE – Heidelberg Aula der Neuen Universität Heidelberg
24.04.2025 Paolo Fresu, Richard Galliano, Jan Lundgren CH – Genf, Victoria Hall
25.04.2025 Paolo Fresu, Richard Galliano, Jan Lundgren CH – Tonhalle Zürich
29.04.2025 Paolo Fresu, Richard Galliano, Jan Lundgren CH – Basel, Stadtcasino
23.05.2025 Paolo Fresu, Richard Galliano, Jan Lundgren LI – Schaan TAK Theater Liechtenstein
26.06.2025 Paolo Fresu, Richard Galliano, Jan Lundgren DE – Timmendorfer Strand, JazzBaltica
21.09.2025 Paolo Fresu, Richard Galliano, Jan Lundgren DE – Düsseldorf, Burgplatz