Das Internationale Jazzfestival Münster beginnt eigentlich stets mit Neujahrswünschen. Findet es doch alle zwei Jahre (in den gerade gibt es inzwischen die „Short Cuts“ mit nur einem Tag) am ersten Wochenende des Jahres statt, was einen also diesmal gleich am 3. Januar ins Theater der Stadt führte, dieses wundervolle Fünfzigerjahre-Juwel. Ein friedvolleres neues Jahr als das abgelaufene wünschte also Festivalleiter Fritz Schmücker und kam wie vor zwei Jahren angesichts des Zustandes der Welt nicht umhin, darauf hinzuweisen, wie privilegiert man hier sei, bei einer vorbildhaften Zusammenkunft im Geiste des Miteinanders. Tatsächlich kam einem von fern angereisten Betrachter das Festival in vielerlei Hinsicht wie eine Insel der Seligen vor. Doch dazu später mehr.
Den Gedanken des Miteinanders wie den Titel „International“ hätte das Auftaktkonzert kaum besser illustrieren können: Im 13-köpfigen Amsterdamer Brainteaser Orchestra des jungen Großensemble-Masterminds Tyn Wybenga saßen einschließlich des Stargastes Theo Ceccaldi Frauen und Männer aus acht Nationen. Und schufen zusammen wie schon beim gefeierten Auftritt in Saalfelden wahrlich grenzenlose Klanglandschaften.
A propos Saalfelden: Beide in manchem ähnliche Festivals verlangen dem Besucher einiges ab. In Münster heißt das: Jeweils vier Stunden-Konzerte im großen Haus, dazu samstags und sonntags noch jeweils zwei im kleinen Haus (dort gab es Sonntagvormittag obendrein ein Familien-Konzert) und eine Mittagsimprovisation in der Dominikanerkirche. Macht zusammen 19 Konzerte in drei Tagen. Das ist viel Musik, und zumeist nicht einfach durchhörbare. Dass man trotzdem aufmerksam und am Ball bleibt, ist nicht zuletzt der Dramaturgie von Fritz Schmückers stets ausgebuffter Programmierung zu verdanken: Ein synästhetisch konzipiertes Puzzle, bei dem am Ende jedes Teil am richtigen Platz sitzt.
Schmückers zeigt sich in der gerne zitierten „Ästhetik der Kontraste“. Die wird inszeniert mit einem „Who is Who des unbekannten Jazz“ (wie ein Kritiker einmal treffend schrieb), das überwiegend neue Formationen und Projekten dem hiesigen Publikum erstmals vorstellt – diesmal waren es acht Uraufführungen und Deutschland-Premieren. Es stehen also genau die Aspekte und Protagonisten im Mittelpunkt, die den erweiterten Jazz seit längerem zum spannendsten Musikgenre machen – auch wenn das außerhalb der „Szene“ kaum mehr jemand mitbekommt.
Schmücker hat in vielen Dienstjahren ein enormes Gespür für die kommenden Größen entwickelt. Seit genau 40 Jahren dient er nun dem Festival, und nachdem dieses bei der vergangenen Ausgabe Jubiläum feierte, war nun er an der Reihe: Sein Team überreichte ihm als Geschenk eine Flasche Maracuja-Saft (eine Anspielung darauf, dass Schmücker keinen Alkohol trinkt) und einen selbstgebastelten roten Miniaturflügel – der rote Steinway war bis vor zwei Ausgaben ein Markenzeichen des Festivals, bis ihn der Sponsor verkaufen musste.
Vom Instrument zurück zu den Instrumentalisten. Wie immer fanden sich einige vertraute Gesichter im Programm. Die 31-jährige belgische Posaunistin Nabou Claerhout etwa, eine der Entdeckungen im europäischen Jazz der jüngsten Zeit, war schon vor zwei Jahren mit ihrem angestammten Quartett hier. Nun saß sie gleich zur Eröffnung im Brainteaser Orchestra, um tags darauf ihr neues Trio mit Rainier Baas und Jamie Peet durch den Bassisten Glenn Gaddum zum Quartett erweitert Premiere feiern zu lassen. Und das mit einem energiegeladenen, komplexen und trotzdem in sich ruhenden, alle vier Ausnahme-Instrumentalisten voll zur Geltung bringenden Vortrag, der definitiv ein Höhepunkt des Festivals war.
Ohnehin gab es am Samstag nicht ein einziges auch nur ansatzweise schwaches Konzert zu hören, nachdem man am Freitag vielleicht noch ein bisschen beckmessern konnte: Etwa, dass die Pianistin Makiko Hirabayashi zwei Stücke Ankaufzeit brauchte, bis ihr skandinavisches Quartett seinem Namen Weavers gerecht wurde und feine, durchaus bunte und vielfarbige Klanggeflechte knüpfte. Dass auch Virtuosen wie die Posaunistin Shannon Barnett oder die Klarinettistin Shabnam Parvaresh im KIND-Quartett des Lokalmatadors und Saxofonisten Jan Klare dessen solostischen Limits nicht völlig überdecken konnten. Oder dass man die Art und Weise schon sehr gut kennt, auf die der Holzblas-Veteran Gianluigi Trovesi mit seinem wiedererweckten italienischen Ur-Trio seinen federleicht mediterranen Jazz auf die Bühne tupft. Wenn das überhaupt irgendeine Art von Kritik sein kann.
Am Samstag nun ging es Schlag auf Schlag von einem Highlight zum nächsten – vielleicht gerade, weil nicht alles so kam wie geplant. Denn nach Claerhouts Opening im kleinen Saal musste Schmücker ansagen, dass das Trio der koreanischen Pianistin Chaerin Im wegen ihrer akuten Erkrankung ohne die Bandleaderin spielen würde. Sie kam dann aber nach dem ersten Stück doch auf die Bühne, mit einem fortan wundervollen Programm, dem man ihre Herkunft anhörte, insbesondere bei einer Zwei-Minuten-Pretiose, die K-Pop verjazzte.
Freilich sollte sich der Auftritt im kleinen Saal gewissermaßen rächen. Drei Stunden später, als sie in Jasper Hoibys Trio Three Elements mit hätte antreten sollen, musste sie endgültig passen. Was einem wieder einmal so ein Wunder bescherte, das es nur im Jazz gibt. Daniel Garcia Diego, der zuvor mit seinem eigenen neuen Sextett an der Reihe war, das sich stark exil-iranisch besetzt weit von seinem früheren Flamenco-Jazz entfernt und spannende interkulturelle Dialoge evoziert, sprang kurzentschlossen für Im ein. Um sich zur Verblüffung aller Hoibys nicht gerade simples Material so mitumzusetzen, als hätte er schon Jahre in dieser Konstellation gespielt.
Neben Druckvollem, Flirrendem, Komplexem oder Groovendem fand sich immer wieder auch Meditatives zum Durchschnaufen: Das Duo Harfe/Saxofon mit Alina Bzhezhinska und Tony Kofi beispielsweise oder auch der französische Klarinetten-Veteran Louis Sclavis mit seinem lyrischen Quintett „India“, das von indischer Musik inspiriert ist. Und eher der ruhigen Abteilung zurechnen konnte man am Sonntag auch die Pianistin Clara Haberkamp zurechnen, die für einen weiteren traditionellen Programmpunkt stand: die Verleihung des Westfalen-Jazzpreises durch die aus Schmücker, Lena Jeckel vom Kulturamt Gütersloh und dem Leiter des Dortmunder Domicil-Jazzclubs bestehende Jury. Ihr klassisches Klavier-Trio mit Oliver Potratz am Bass und Jarle Vespestad am Schlagzeug holte sozusagen im Preisträgerkonzert neben Eigenem auch fein neu geschliffene Oldies wie „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ oder „If You Could Read My Mind“ aus der Versenkung.
Versenkung war auch das Stichwort für das beeindruckenden Trio des französischen Klarinettisten Yom (bürgerlich Guillaume Humery) mit den Brüdern Theo und Valentin Ceccaldi. Meist im Lotussitz spielend schlug Yom mit seinen Stücken die Brücke zwischen sakraler und weltlicher Musik, zwischen Orient und Okzident und zwischen filigranstem Feinklang und furioser Aufwallung – getreu des Programmtitels „Le Rhythme du silence“. Ein weiterer absoluter Höhepunkt.
Und auch wenn das Klangergebnis völlig anders war, war der Weg davon zum britischen Saxofonisten Xhosa Cole gar nicht so weit: Auch er lässt sich spirituell-mystisch inspirieren, vor allem von Thelonious Monk, dessen Musik sich sein Quartett Freemonk explizit widmete. Eine indirekte Verbeugung vor dem zurückgetretenen, hier oft präsenten größten deutschen Jazz-Pianisten Joachim Kühn war schließlich das große Finale. Der erst 25-jährige Marimba-Spieler Andres Coll aus Ibiza ist eine Entdeckung des bekanntlich dort lebenden Kühn. Und so wirbelte der junge Wilde jetzt auch in Münster hier an der Seite der langjährigen Kühn-Weggefährten Majid Bekkas, Ramon Lopez und Mateusz Smoczynski.
Mit großem anschließendem Jubel, wie nach fast jedem Konzert bei diesem wie immer Monate vorher ausverkauften Festival. Mag anderswo alles schwieriger werden, vom Umfeld und der Finanzierung bis hin zum Publikumszuspruch -hier in Münster kann man sich noch wie in einer guten alten Vor-Corona-Zeit fühlen. Allerdings ist auch hier dafür in erster Linie die Generation Schmückers verantwortlich. Soll es so innovativ, erfolgreich und großfamiliär bleiben, dann muss auch hier bald etwas nachkommen.