Zeiten und Welten verbinden mit Tönen: Das Jazzfest Berlin feierte 60-jähriges Bestehen

Auch so kann man feiern: Hochklassige Konzerte und Jazzprojekte mit Kindern schauten nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft. Ein „Research Lab“ arbeitete die Geschichte wissenschaftlich auf. Und die Töne wetterleuchteten in allen Farben. „Still Digging“ hieß das Motto beim Jazzfest Berlin 2024, ergänzt durch die Formel „Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft“.

Der Schluss-Akkord hätte bunter und selbstironischer nicht sein können. Die 16-köpfige „Special Big Band“ des japanischen E-Gitarristen Otomo Yoshihide ließ den 60er-Jahre-Ohrwurm „Say a little prayer“ (Burt Bacharach) in fröhlicher Bläserwucht und Rhythmus-Power überschäumen. Und setzte dann auch noch mit tanzenden Sängerinnen einen extra langgezogenen japanischen Schlager hinterher, der wie Fernost-Karaoke zu Live-Jazz klang. Eine Paradiesvogel-Schlussfete von schräger Munterkeit, die für Momente aber auch zu tiefgründigem Ernst fähig war: und das auf der großen Bühne im Haus der Berliner Festspiele. Dort und an anderen Spielorten feierte das Jazzfest Berlin vier Tage lang sechzigsten Geburtstag – denn seit 1964 gibt es dieses bedeutendste Jazzfestival Deutschlands, das einst unter dem Namen „Berliner Jazztage“ gegründet worden war (da die erste Ausgabe mitgezählt werden muss, war das jetzt das 61. Jazzfest, aber eben 60 Jahre nach dem Debüt).

Musik mit Kanten, Poesie und bewegenden Momenten

Eines bleibt gleich festzuhalten: Selbst ein „little prayer“, wie in Burt Bacharachs Song, scheint nicht nötig zu sein, was die Qualität und Lebendigkeit dieses Festivals angeht. Dieses Jubiläums-Jazzfest bot ein Programm, das anregender und gehaltvoller nicht hätte sein können. Die vier Festival-Tage zeigten auch, welch hohes Niveau und wie viel Frische und Ausdruckskraft aktueller Jazz aus unterschiedlichen Teilen der Welt haben kann: mitreißende Musik mit Ecken, Kanten, Tiefe, Poesie und vielen berührenden Momenten. Lauter Highlights in einer Spanne von den Pianist:innen Kris Davis, Sylvie Courvoisier und Joachim Kühn bis hin zu Saxophonist Joe Lovano und Schlagzeuger John Hollenbeck. Die künstlerische Leiterin Nadin Deventer – seit 2018 und auf jeden Fall noch bis 2027 im Amt – lieferte bei diesem Jubiläum nach vielen guten Festivals ihr wohl bisher bestes Programm ab: vielfältig, herausfordernd und mit viel Sinn für spannende Dramaturgie.

Frischzellen-Sound und zarte Gewitter mit Joachim Kühn

Pianist Joachim Kühn und Posaunist George Lewis beim Pausengespräch im Foyer im Haus der Berliner Festspiele vor einer Ausstellung früherer Festival-Plakate. Foto: Roland Spiegel

Das Jazzfest Berlin wurde sechzig – und einer der bedeutendsten deutschen Jazzmusiker dieses Jahr achtzig: der Pianist Joachim Kühn. Er stellte im Hauptkonzert am Samstagabend im Großen Saal sein neues Trio vor – das „Joachim Kühn French Trio“, das hier Weltpremiere feierte. Seine beiden Partner darin sind Bassist Thibault Cellier und Schlagzeuger Sylvain Darrifourq, zusammen etwa so alt wie Kühn alleine. Wie eine musikalische Frischzellenkur wirkt offenbar die neue Zusammenarbeit für Joachim Kühn. Eine soghafte Kraft hatte das Konzert der Drei von Anfang an: Nach sehr ruhigem, introvertiertem Beginn ballte sich die Energie des Trios immer wieder zu gewitterhaften Entladungen. Dann wieder gab es in einem leisen Stück so zarte Tonfolgen, wie man sie bei diesem Pianisten bisher ganz selten so erlebte. Ganz fein und reaktionsschnell kommunizierten diese drei Musiker hier miteinander, so spannend, dass man beim Hören alles um sich vergessen konnte. Und dann erzählte Joachim Kühn dem begeisterten Publikum in bewegenden, aber nicht rührseligen Worten, wie seine Karriere vor 58 Jahren beim selben Festival im Auftritt mit seinem Burder Rolf Kühn, dem bedeutenden Klarinettisten, einen wichitgen Impuls bekam: „Das Unerwartete geschah“, sagte er über das damalige Konzert in einem Programm immerhin mit damaligen Jazzstars wie Dave Brubeck, „das Publikum mochte uns am liebsten“. Der Satz, so fühlte es sich an, dürfte auch auf Joachim Kühns diesjährigen Auftritt beim Jazzfest zutreffen.

Vier Künstlerischer Leiter und eine Leiterin auf dem Podium

Der Jazz erinnert an Vergangenheit und blickt aus höchst lebendiger Gegenwart in die Zukunft: Das könnte als Quintessenz unter der Bilanz des Jazzfests Berlin 2024 stehen. Ein Festival wie dieses muss sich auch seiner Geschichte stellen, und das fand mit Podiumsdiskussionen und Berichten über wissenschaftliche Erkenntnisse zur Festivalgeschichte statt (vieles von ergiebigen Texten im ausgezeichneten Jubiläumsheft begleitet). Spannende Betrachtungen etwa zum Wandel der Festivalplakate stellte der ehemalige künstlerische Leiter und Journalist John Corbett aus Chicago an (2002 gestaltete er das Jazzfest-Programm): Manche Plakat-Ästhetik hat sich eindeutig überlebt, wie etwa 1992 ein pinkfarbenes Frauenbein in Stöckelschuh, das zum Saxophon mutiert. John Corbett saß am selben Nachmittag mit drei anderen ehemaligen künstlerischen Leitern (Peter Schulze, Bert Noglik, Richard Williams) sowie ihrer aktuellen Kollegin Nadin Deventer auf einem Podium – wo alle über ihre künstlerischen Konzepte sprachen. Ein Beispiel fürs Ganze: Richard Williams, der Vorgänger Deventers, wollte ein Publikum, das einst Sarah Vaughan ausbuhte und sich zwischen Stan Kenton und Miles Davis spaltete, mit seinen (hervorragend durchgestalteten) Programmen möglichst auch herausfordern.

Mut als Schrei, um Freiheit zu behalten

Herausforderungen bot das Jazzfest-Programm 2024 in Hülle und Fülle: intellektuelle, konditionelle (24 Konzerte und viel Begleitprogramm) und musikalische. Denn zum Zurücklehnen und Einkuscheln in wohligen Sounds war da nichts gedacht. Gleich das erste Konzert des Festivals mit dem 13-köpfigen „Unfolding Orchestra“ des schwedischen Bassisten Vilhelm Bromander knüpfte an die Protestkultur des Jazz an: aber nicht als klischeehafter „Schrei nach Freiheit“, sondern als vielfarbig schillernder Schrei, die Freiheit zu behalten. Am selben Abend die Begegnung des amerikanischen Saxophonisten und Poeten Joe McPhee mit dem britischen Trio Decoy (Alexander Hawkins, Hammondorgel, John Edwards, Bass, und Steve Noble, Schlagzeug) war ein Glanzstück von Text-Performance und rauen Tenorsax-Kantilenen über fauchenden, ekstatischen Ausbrüchen eines Trios, das auch zu vielen freitönenden Feinstrukturen in der Lage ist. Drei Tage vor seinem 85. Geburtstag, in roten Turnschuhen und mit AC/DC-Sweatshirt, rief Joe McPhee am Ende ins Publikum: „Revolution!“ – aufbrandender Applaus -, um dann seinen Text fortzuführen mit der Frage: „Who’s the victim, what’s the crime?“

Auch im Jubiläums-Aufgebot des Jazzfests: das Sun Ra Arkestra. Diese Big-Band, die immer noch dem musikalischen Erbe ihres 1993 verstorbenen Leaders Sun Ra und dessen Stellvertreters hienieden, des 100 Jahre alt gewordenen Altsaxophonisten Marshall Allen huldigt, gab sich diesmal sehr wenig afrofuturistisch-experimentell, sondern eher gemütlich swingend. Eine „Friendly Galaxy“ – wie einer der Stücktitel auf ihrem aktuellen Album verheißt.

Die vielen Farben des Klaviers

Zu den Höhepunkten im Großen Saal des Hauptspielorts „Haus der Berliner Festspiele“ gehörten neben der Premiere von Joachim Kühns Trio weitere Auftritte mit Klavier im Mittelpunkt. Die Amerikanerin Marilyn Crispell trat solo (und später in Joe Lovanos Trio) auf und zeigte, zu welch verblüffender Einfärbungskunst von Tönen sie fähig ist: Zart wie ein Glockenspiel kann ihr Klavier klingen – und dann wieder montrös scharfkantig mit wie herausgemeißelten Tönen. Die Kanadierin Kris Davis brachte in ihrem Quartett „Diatom Ribbons“ das wuchtig-präzise Schlagzeug von Terri Lyne Carrington, den wendig-sensiblen Bass des Wahlberliners Nick Dunston und die vielgestaltigen Geisterstimmen der Turntable-Künstlerin Val Jeanty mit ihrem eigenen, kristallklaren, irrlichternd intensiven Klavierklang zusammen: hochgradig differenzierte und spannende musikalische Bögen. Und die seit langem in den USA lebende Schweizer Pianistin Sylvie Couvoisier zeigte bei der Europa-Premiere ihres Quartetts Poppy Seeds mit der Vibraphonistin Patricia Brennan, Kontrabassist Thomas Morgan und Schlagzeuger Dan Weiss, wie atemberaubend aktuelle Jazz-Kammermusik in derselben Besetzung wie einst des epochemachenden Modern Jazz Quartet sein kann: Allein, wie fein und dynamisch vielfältig hier Klavier und Vibraphon interagierten, war in jedem Stück zum Staunen.

Der Erzähler am Saxophon

Als große Erzählstimme des Jazz zeigte sich der Saxophonist Joe Lovano in seinem Tapestry Trio mit Pianistin Marilyn Crispell und Drummer Carmen Castaldi. Ein Spiel voll erdiger Kraft, das an Vorbilder wie Joe Henderson und an hymnische Linien John Coltranes denken lässt. Genau eine Stunde lang spannte das Trio einen schlüssigen Bogen um den plastischen Sound Lovanos, der den größten Teil der Strecke auf dem Tenorsaxophon absolvierte – und zwischendurch auch mal Glissandi auf verschiedenen Gongs herausholte, manchmal synchron zum dabei mit einer Hand gespielten Saxophon.

Der menschliche Macht-Instinkt in Kings letzter Predigt

Besonders faszinierend reagierte der Schlagzeuger John Hollenbeck mit einem seiner Projekte auf die Geschichte des Festivals: Er vertonte in gleich drei Versionen eine Predigt des Bürgerrechtlers Martin Luther King, „The Drum Major Instinct“, gehalten am 3. Februar 1968, zwei Monate vor seiner Ermordung. King schrieb einst  auch das Grußwort zu den allerersten Berliner Jazztagen, 1964. In der hier vertonten Predigt geht es um den menschlichen Drang, Erster zu sein und andere anzuführen, ein Drang, der in der ganzen Menschheitsgeschichte zu Unfrieden führte – und dessen Erwähnung aktuell zum Beispiel an Parolen wie „America first!“ denken lässt. Drei Posaunen, Schlagzeug, Akkordeon, Vibraphon und Gitarre kommentierten die aus dem Off kommende Predigerstimme Martin Luther Kings und unterstrichen die Vehemenz seiner Botschaft. Filmausschnitte aus der Geschichte des Festivals liefen zwischen den Versionen der King-Vertonung – und zeigten etwa die 1978 von Teilen des Publikums ausgebuhte und von anderen auf der Bühne schützend umgebene südafrikanische Sängerin Miriam Makeba (offenbar, weil sie Musik machte, statt ein verbales politisches Statement abzugeben) mit einem bewegenden A-cappella-Song.

Was ist Jazz? „Sie werden es nie wirklich wissen“

Viele Aspekte rund um Jazz und die Geschichte eines Festivals an vier Tagen. In einem Stadtteil-Projekt in Berlin Moabit brachte bereits die ganze Woche über ein „Community Lab“ Jazzmusiker:innen mit Kindern und Jugendlichen zusammen. In der Moabiter Reformationskirche (genannt Refo) begegneten Jazzer wie Alexander Hawkins, Sofia Jernberg und die Mitglieder von Vilhelm Bromanders Unfolding Orchestra unter anderem einem syrischen Frauenchor und einem türkischen Chor. Jazz, so zeigte sich, kann Welten und Zeiten zusammenbringen. Und er ist, wie der Posaunist und Columbia-Professor George Lewis in einem Video-Vortrag am Eröffnungs-Abend treffend schloss, stets aufregend unberechenbar: „Was ist Jazz? Wer ist Jazz? Ich weiß, das werden Sie fragen. Aber Sie werden es nie wirklich wissen.“

Roland Spiegel

Beitragsbild: Die Otomo Yoshihide Special Bigband auf dem Jazzfest Berlin. Foto: Soshi Setani

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