(Von Michael Scheiner) Eine Zigarre zwischen den Lippen, den Blick am Bass vorbei zur Seite geneigt: Charles Mingus war kein besonders angenehmer Zeitgenosse. Davon zeugen ausgeschlagene Zähne bei einem Mitmusiker, Publikumsbeschimpfungen (noch vor Peter Handke), Clubbesitzer die sich weigerten ihn einzuladen und häufige Besetzungswechsel in seinen Bands. Duke Ellington legte dem in Watts/Los Angeles aufgewachsenen Bassisten nach einem Streit mit Juan Tizol nahe zu kündigen, „weil er einen ganzen Sack voll neuer Macken“ mitgebracht zu haben schien.
Transatlantische Jazzgeschichten
Diesem Nörgler und Choleriker haben Sven Faller und August Zirner ein ganzes Album gewidmet, das Mitte November bei GLM Music erscheint – „Mingus“. Denn auf der anderen, der künstlerisch-kreativen Seite, war der „Zuhälter und Feingeist“, wie er im Beiblatt beschrieben wird, ein genialer Komponist und überragender Instrumentalist. Viele seiner Kompositionen werden bis heute gespielt. Es gibt Bands, die ganze Programme mit Stücken von ihm bestreiten oder sich danach benannten. Mingus gehört mit seinem einzigartigen Stil aus Gospel, Bebop, Blues und klassischen Formen unzweifelhaft zu den herausragenden und einflussreichsten Figuren des modernen Jazz im 20. Jahrhundert.
Kreativität ist es, das Komplizierte einfach zu machen
Zirner und Faller hangeln sich an einem Gedanken Mingus` entlang, der als Zitat überliefert ist: „Jeder kann das Einfache kompliziert machen. Kreativität ist es, das Komplizierte einfach zu machen“. In ihrem Duo-Album steckt einiges an Kreativität und Improvisation, das die beiden als Musiker auf Flöte und Kontrabass und als Erzähler gefühlvoll und genüßlich auskosten. Sie steigen mit einer der bekanntesten Kompositionen ein, „Goodbye Porkpie Hat“, die Mingus dem Saxofonisten Lester Young gewidmet hat. Während Faller sich mit findiger Lust in das Thema hineinschraubt und elegant harmonische Klippen auslotet, beginnt Zirner zu erzählen und wechselt im letzten Drittel zur Flöte.
Um Mingus` Kindheit, seine verschlungene familiäre Herkunft und und sein Umfeld in dem er aufgewachsen ist, drehen sich die Erzählung „Holy Nothing“ und der heitere Blues „Watts Blues“. Mit dem „Heilige Nichts“, wie Mingus gegen Ende seines Lebens Bilanz zieht, taucht Zirner gut nachvollziehbar in die komplexe philosophische Gedankenwelt des Genies ein. Einen Spaziergang durch die Stadt der Engel, Los Angeles, unternimmt dagegen Faller mit „City of Angels“. Leichtfüßig erzählt von seiner Ankunft in dieser Metropole am Pazifik, wohin seine Großvater vor den Terrorregime der Nationalsozialisten geflohen war.
Biografische Parallelen
Dieser Wechsel aus eigenem Erleben, biografischen Schlaglichter auf den Protagonisten Mingus, der sich als bunt und drei – „I Am Three“ – Personen gesehen hat, und musikalischen Exkursionen bestimmt das ganze Album. Faller und Zirner, die einige biografische Parallelen in ihren Lebensläufen aufweisen, entwickeln damit die „Transatlantischen Geschichten“ weiter, mit denen sie mehrfach auf Tour waren.
Im Unterschied zu älteren Formen wie „Jazz und Lyrik“ oder dem DDR-Klassiker „Lyrik – Jazz – Prosa“ vermischen die beiden Transatlantiker persönliche Erlebnisse und Erfahrungen mit Jazzgeschichte. Damit schaffen sie neue, eigene Zugänge zu einer Musik, die manchen noch immer als elitär gilt, dabei aber so viele Emotionen aufweist. Verbunden mit Einblicken in ein schwarzes Leben in einem von Rassismus geprägten Land wird daraus ein fesselndes, musikalisch abwechslungsreiches und heiteres Hörvergnügen. Ergänzt um die Mingus-Bilder von Stefan Göler, die aktuell im Café im Lokschuppen ausgestellt sind, ergibt sich ein vielschichtiges Bild eines Musikers und Komponisten, der auch 45 Jahre nach seinem Tod noch vielfach Menschen bewegt.
Info:
Sven Faller/August Zirner: Mingus
GLM Music, München 2024
Titelfoto: H-J-Michel
Eindrucksvoll geschrieben, dadurch wurde meine jazzorientierte Neugier geweckt, sicherlich wird die Hommage an Mingus gute Resonanz finden!