(Text und Fotos: Oliver Hochkeppel) Drei EM-Spiele gab es im Sommer in der Schalke-Arena, und ausgerechnet die englischen Fans wärmten wieder alle Gelsenkirchen-Klischees von Deutschlands hässlichster und ärmster Stadt auf. Sicher es gibt schlimme Ecken – wie in mittlerweile jeder englischen Stadt. Seit einigen Jahren schon kämpfen die Gelsenkirchener Bernd Zimmermann und Susanne Pohlen auf ihre Art gegen diese Klischee an – mit Jazz. Mit ihrer PublicJazz Eventagentur in Zusammenarbeit mit dem von Susanne Macheit geleiteten Verein zur Förderung von Kunst und Jazz, mit ihrer Konzertreihe „FineArtJazz“ – und mit dem „New Colours Festival“, das nun seine dritten Ausgabe erlebte.
Herausragende Spielorte
Vier Tage lang konnte man nun wieder schöne Ecken von Gelsenkirchen kennenlernen, besondere, zum Teil herausragende Spielorte für Konzerte nämlich. Das Schloss Horst etwa als Festivalzentrale, dessen Bühne vor einer in Farben getauchten alten Wandfassade sich vom Ambiente wie von der Akustik her so manche Stadt wünschen würde. Mit dem Industriedenkmal Nordsternturm in luftiger Höhe. Mit dem Schauburg Filmpalast, einem der letzten klassischen Kinopaläste der Republik, denkmalgeschützt und die Zwanzigerjahre-Architektur mit moderner Technik verbindend. Mit dem Musiktheater im Revier, einem revolutionären immer noch bewundernswerten Architektur-Highlight der Fünfzigerjahre. Mit der zur Spielstätte umgewandelten Heilig Kreuz Kirche, einem Prunkstück des Backsteinexpressionismus. In der Kaue, einem zum Club umfunktionierten ehemaligen Teil der Zeche Wilhelmine Victoria. Und erstmals im von Privatleuten aus einem Supermarkt in den „Kunstraum Norten“ verwandelten Saal.
Wider die Klischees
Passen dazu läuft beim New Colours Festival auch Musik wider die Klischees. Das Wort Jazz kommt im Titel absichtlich nicht vor, führt der Begriff doch in einem mittlerweile grenzenlosen, jede Musikform umarmenden Genre zu oft und zu viele in die Irre. Mit dem, was 99 von 100 Befragten für Jazz halten, hat nur noch wenig zu tun, was die meisten Künstler zu bieten hatten. Zumeist spannende, neue, grenzenlose Musik nämlich.
Unmöglich in den alten Kategorien ist schon zu beschreiben, was der norwegische Tubist und Basstrompeter Daniel Herskedal hier solo präsentierte, einer der Aufsteiger der Szene in jüngster Zeit. Von Nordisch-Sphärischem, das die Musiktradition der Samen aufnimmt und weiterspinnt, bis zu Elektronisch-Wuchtigem reicht seine Palette. Auch das australische Quartett The Vampires hat sich seine eigene Fusion zusammengebastelt, in dem die feinen Bläser Nick Garbett an der Trompete und Jeremy Rose am Saxofon mit dem verwaschenen E-Bass von Noel Mason und dem betont uneleganten Schlagzeug von Alex Masso kontrastieren. Geschmackssache.
Frage des Standpunkts
Wie auch das schon von der Besetzung her außergewöhnliche Duo des Akkordeonisten Luciano Biondini mit dem Sitarspieler Klaus Falschlunger. Ob man es nun bemängeln oder loben will, dass Falschlunger die Sitar eher wie eine exotisch klingende Gitarre einsetzte und die indisch-asiatische Tradition des Instruments nur sporadisch anklingen ließ, ist eine Frage des Standpunkts. Spieltechnisch und klanglich waren beide über Zweifel erhaben. Was ebenso für die Schweizer Sängerin mit japanisch-polnischen Wurzeln Yumi Ito gilt, die hörbar einst von der Klassik zum Jazz gekommen ist und mit ihrem Trio einen beeindruckenden Art-Pop-Jazz anstimmt.
Höhepunkt
Vielleicht der Höhepunkt des Festivals war der Auftritt des spanischen Bassisten Pablo Caminero und seines famosen Trios mit Moises Sanchez am Klavier und Borja Barrueta am Schlagzeug. Nicht nur, weil die Musikalität aller drei bei ihrer Jazz-Mischung mit klassischen, baskischen und mediterranen Elementen bestechend war, sondern auch, weil an Caminero ausweislich seiner brüllkomischen Moderationen ein Kabarettist verloren gegangen ist.
Genau angepasst an die Spielorte waren die zwischen Klassik, klassischem und zeitgenössischem Jazz pendelnde Kammermusik des Saxofonisten Roger Hanschels mit dem Streichquartett String Thing, die Gesangs- und Cello-Performance der in Berlin lebenden Amerikanerin (mit polnischen Wurzeln) Bison Rouge (alias Alina Greszek) im Kunstraum Norten) und der Neo-Krautrock-Jazz von Foxl in der Schauburg.
Spannend, interessant, modern
Alle bisher Genannten boten – selbst wenn und gerade weil nicht alles nach jedermanns Geschmack war – spannende, interessante, moderne Musik jenseits konfektionierter Massenware. Vielleicht deshalb war so gut wie allen Konzerten gemeinsam, dass man sich jeweils noch etwas bessere Besucherzahlen gewünscht hätte. Am meisten beim Doppelpack der luxemburgischen und dänischen Power-Bands Dock In Absolut und Girls In Airport, die beide über eine gewachsene „junge „Community“ verfügen und eigentlich überall gut laufen. Aber leider konzentriert sich aktuell eben immer mehr auf das Allgefällige. Fast jede Kultur abseits der ausgetretenen Pfade tut sich schwer.
Wie zum Beweis diente da das in der riesigen Heilig Kreuz Kirche nahezu ausverkaufte Abschlusskonzert vom Club de Belugas. Tanzbarer, eingängiger World-Pop mit Jazz-Spurenelementen reichte, um den Saal zu begeistern. Bis auf den Part, an dem die Band einen Jobim-Song schändete, natürlich ganz in Ordnung. Ein Kompromiss in einem ansonsten erfreulich kompromisslosen Festival.