Fordernd und fördernd: Das Jazzfestival Saalfelden 2024

Das 44. Jazzfestival Saalfelden stand unter einem guten Stern: Prächtiges Wetter und ein enormer Publikumszuspruch begleiteten die mehr als 60 Konzerte. Da etliche davon herausragend waren, festigten der Künstlerische Leiter Mario Steidl und sein Team den Rang des Festivals als eines der führenden europäischen im Feld des progressiven, modern contemporary Jazz.

Leider steht ja auch die Kultur seit langem unter dem Primat der Ökonomie und muss als „weicher Standortfaktor“ alles, auch das eigentlich Unzähl- und Unbezahlbare in Zahlen aufrechnen. Das Jazzfestival Saalfelden spielt dieses Spielchen schon deshalb aktiv mit, weil es eine ziemlich einzigartige Doppel-Trägerschaft besitzt: Es wird gemeinsam vom Kunsthaus Nexus – also einer öffentlichen Kultureinrichtung – und der Saalfelden-Leogang Touristik GmbH – also einem Wirtschaftsbetrieb – veranstaltet. Man ist deshalb bei der Analyse weit voraus und wertet unter anderem Mobilfunkdaten aus. Wohlan, fest steht: Das Jazzfestival Saalfelden ist ein echter Publikumsmagnet. Mit gut 28000 Besuchern erreichte die 44. Ausgabe einen neuen Rekord. Der Etat von gut 800.000 Euro dürfte damit ausgeglichen sein, die gesamte Wertschöpfung für die Gemeinde erreicht 2,18 Millionen Euro.

Das ist vor allem deshalb und auch jenseits der wirtschaftlichen Betrachtung so bemerkenswert, weil das Programm künstlerisch wenig Kompromisse macht. Zwar spielen auf der Gratis-Bühne im Stadtpark auch Pop-Acts, im Rest des auf das malerische Brucklwirtshaus, die Buchbinderei Fuchs, auf Almen und Natur („Mountain Tracks“), aber vor allem natürlich auf die Main Stage im Kongress-Zentrum, das Kunsthaus Nexus („Short Cuts“) und die Otto-Gruber-Halle verteilten Konzertgeschehens finden sich aber keine Mainstream-Zugpferde. Oder gar die Pop-Anwanzereien, die andernorts – siehe Montreux oder nun auch beim Elbjazz in Hamburg – den Titel „Jazzfestival“ zur Farce machen.

Dicht getaktet bis spät in die Nacht

Nein, Saalfelden ist nun schon seit längerer Zeit das Gipfeltreffen der vielgestaltigen, Genre-sprengenden Musik, die man inzwischen etwas hilflos „modern contemporary Jazz“ nennt. Ein Hardcore-Event, einmal, weil das Programm von frühmorgens bis spät in die Nacht dicht getaktet ist, zum anderen, weil die Musik überwiegend nicht gefällig, zum Zurücklehnen oder auch zum Tanzen ist, sondern zumeist komplex und fordernd. Umso erstaunlicher ist es da, dass nahezu jedes Konzert voll oder gar überfüllt war. Selbst nachts beim dritten oder vierten Konzert im Kongress kauerten noch viele im Saal wie auf der den VIPs, Gästen und Journalisten vorbehaltenen Galerie seitlich auf dem Boden.

Eine Erklärung dafür kann man beim „Jazz-Camping“ finden, dem eigens für das Festival direkt am malerischen Ritzensee eingerichteten Campingplatz. Auch der war randvoll, und neben Kennzeichen aus ganz Österreich sah man viele süd- und ostdeutsche, aber auch italienische oder slowenische. Das Jazzfestival Saalfelden ist in seiner Nische ein internationaler Magnet. Und damit sind wir endlich beim Wichtigsten, bei der Musik.

Saalfelden versteht sich als Plattform und Multiplikator für neuen, innovativen, schon deswegen zumeist jüngeren Jazz. Das Programm speist sich also aus einem bestimmten Kreis von Musikern, der freilich groß genug ist, immer wieder neue Namen und Projekte zu generieren. Wie jeder Festival-Macher hat natürlich auch Mario Steidl seine Lieblinge, einen Lukas Kranzelbinder zum Beispiel, der auch deshalb jedes Jahr dabei ist, weil er der ideale musikalische „Bergführer“ für die „We Hike Jazz“-Touren wie für die Abschluss-Jam Session im Nexus ist. Mitunter finden sich dann auch Wiederholungen wie beim Abschlusskonzert von Erik Friedlanders amerikanischer All-Star-Band The Throw, die genau so schon vor fünf Jahren hier gespielt hat (und inzwischen nicht jünger und frischer geworden ist).

Koop in Sachen Exzellenz

Ansonsten aber darf man hier dem „crop of the creme“ (wie es Chef-Moderator Götz Bühler gerne formuliert) der avantgardistischeren Ecke lauschen, mit zumeist aktuellen Projekten, ein paar Premieren und verschiedensten Kombinationen. Denn auch im Sinne der Nachhaltigkeit und des ökologischen Fußabdrucks – dazu kooperiert man auch mit anderen Festivals, insbesondere den Partnern Südtirol Jazzfestival und Jazz & The City Salzburg – reisen die meisten MusikerInnen hier nicht nur für ein Konzert an, sondern für mehrere in unterschiedlichen Besetzungen.

So konnte man zum Beispiel Tomeka Reid, die Wiedererweckerin des Cellos im Jazz, mit ihrem brillanten Quartett auf der Hauptbühne, aber auch in improvisierenden ad-hoc-Duetten mit Theo Ceccaldi und Sofia Jernberg erleben. Jernberg wiederum, die schwedische Sängerin, die ihren Stimmbändern Töne entlocken kann wie wohl derzeit keine andere, war samt der skandinavischen Grindcore und Noise-Freejazz-Formation The End mit Geräuschvollem und Schreien nahe der Schmerzgrenze, mit Reid intim improvisierend und als Gast von Petter Eldhs nun von Koma Saxo zu Post Koma umbenannten phänomenalen Quintett instrumental-melodisch zu hören. Daniel Erdmann machte nicht nur einmal in aller Früh beim „We Hike Jazz“ mit, sondern spielte auch im berührenden Duo mit Vincent Courtois mitten im Kollingwald und präsentierte auf der Main Stage seine im Auftrag der Jazzahead zusammengestellte Band Thérapie de couple. Der seit langem in Frankreich lebende Saxofonist führt hier französische mit deutschen Cracks zu einer besonderen, nicht nur bei seinen Ansagen humorvollen Paartherapie zusammen. Ein Gipfeltreffen, das besonders gut ins Programm eingepasst war, führte Erdmanns Ensemble doch ebenso in die kreative Oberklasse des aktuellen europäischen Jazz ein wie im Konzert zuvor Pianistin Kris Davis mit ihrem Run the Gauntlet-Trio in die des amerikanischen.

Mona Matbou Riahi kommt trotz Auftakt-Pole-Position nicht überzeugend vom Start

Traditionell war das Auftakt-Konzert der Main Stage am Freitag eine Auftragskomposition an einen „heißen“ österreichischen Act. Shake Stew oder Christian Muthspiels Orjazztra Vienna etwa hatten dort umjubelte, Karriere-startende Premieren. Nicht ganz so glücklich konnte man diesmal mit der Commission für Mona Matbou Riahi sein. Die talentierte Klarinettistin, die gerade mit ihrer Band Kry (zum Beispiel beim Outreach Festival in Schwaz) Aufsehen erregt, konnte sich im Quartett mit Dorian Concept an electronics, Manu Mayr Bass sowie der für die (beeindruckenden) Visuals zuständigen Lou Zon nicht so recht zwischen Performance, Minimalismus, Noise, Electro oder Free Jazz entscheiden.

Bekömmlicher, aber vor allem spannender war da schon „Melting Pot“ im Nexus, ein Projekt der Arbeitsgemeinschaft europäischer Jazzfestivals, die hier sozusagen ihre Vertreter zusammenführen. Mit der Geigerin Julia Stein, der Posaunistin Guro Kvale, er Pianistin und Keyboarderin Pak Yan Lau, der Bassistin Sofia Eftychidou und – so viel Gendern muss sein – dem Schlagzeuger Max Plattner war hier ein fein aufeinander hörendes inter-europäisches Ensemble der Entdeckungen zu sehen. Genauso wie beim vom Klarinettisten Vincent Pongracz auf der Main Stage versammelten Sextett Synestetic Jam.

Immer noch eine Entdeckung ist für die meisten wohl Pamelia Stickney und ihr Theremin. Ist ihr doch gelungen, diesen Vorläufer des Synthesizers aus den Fesseln der sphärisch-jaulenden Science-Fiction-Soundtracks zu befreien und zu einem vollwertigen Instrument zu machen. Ob nun perfekt ins Bandgefüge von Chris Jankas Spaß-Trio Bluebut eingepasst oder mit mächtigen Basslines und feinen Melodien im Duo mit dem Peter Rom, dessen E-Gitarre mitunter mehr nach Theremin klang als dieses selbst. Dieses Haptic Harmonies benannte Duo hob sich von vielen anderen auch dadurch ab, dass die beiden ein vorbereitetes Programm spielten, in dem freilich immer noch genug Platz für freie Improvisation blieb.

Hohe Quote an Gelungenem

Auch wenn bei der Ausrichtung Saalfeldens nicht immer jedes musikalisches Experiment gelingen kann, mitunter die freien Radikale einander ähneln, so hatte diese Ausgabe doch eine bemerkenswerte Quote an gelungenen, hochinteressanten und eben auch völlig unterschiedlichen Beiträgen. So wurde zum Beispiel der eher merkwürdige – und mit seiner einseitig pro-palästinesischen Einführung bedenkliche – Auftritt der amerikanischen Sängerin Amirtha Kidambi mit ihrem Elder Ones-Quintett schnell wieder aufgefangen durch die Messthetics-Landsleute mit ihrem für Saalfelden unüblich geradlinigen Rock-Jazz, bei dem als Gast Saxofon-Star James Brandon Lewis mächtig abdrückte. Oder durch das lyrisch-intime französische Streicher-Trio La Litanie des Cimes um den Didier-Lockwood-Schüler Clément Janinet. Erst recht durch das Brainteaser Orchestra, einem der absoluten Höhepunkte des Festivals. Tyn Wybengas 13-köpfige All-Star-Auswahl der niederländischen Szene – die meisten Mitglieder von Jamie Peet über Teis Semey, Kika Sprangers bis zu  Alistair Payne oder Nabou Claerhout haben ihre erfolgreichen eigenen Projekte – stellte sein älteres Großprojekt AM.OK orchestra an Spielfreude und frischem kompositorischen Wind noch in den Schatten. Eine Sensation war alleine Nabou Claerhouts Posaunensolo.

So weist das diesjährige Saalfelden Jazzfestival, dieses vielleicht im positiven Sinne anstrengendste seiner Art, in jeder Hinsicht eine positive Bilanz auf. Nach ein paar Tagen Ruhe, die man danach braucht, wird schnell Vorfreude aufs nächste Jahr aufkommen.

Text und Fotos: Oliver Hochkeppel
Das Beitragsbild zweigt Mona Matbou Riahi mit Band

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