Die Verwandlungskunst hört nicht auf – Südtirol Jazzfestival Alto Adige 2024

(Text & Fotos: Stefan Pieper) Die Magie der blauen Stunde ist ständiger Begleiter im Bozener Kapuzinerpark: Wenn der Tag geht und das aufstrahlende Bühnenlicht über die Dämmerung Oberhand gewinnt, dann verschafft sich zehn Tage und Abende lang die aufregende Vielfalt aktueller Musik Gehör. Beim Südtirol Jazzfestival Alto Adige geht es um die Erkenntnis, dass Jazz doch zu 99 Prozent eben nicht das ist, was gemeinhin darüber in den Köpfen der Nicht-Eingeweihten herumspukt. Orte und Menschen, oft auch die Ausführenden selbst durch Musik in neue Bewusstseinsstadien zu bringen, ja zu verwandeln, diesen Anspruch löste auch die aktuelle Festivalausgabe leichtfüßig ein.

Gewollt unerwartet

Das Unerwartete ist dabei gewollt – ja, entsteht meist wie von selbst, nicht selten an wechselnden Nebenlocations des Festivals. Kurz vor der Geisterstunde dringt eine überschaubare Gruppe verrückter Menschen in Bozens riesige, aber zu diesem Zeitpunkt menschenleere Messehalle ein, in der jetzt etwas ganz anderes stattfinden soll, als die sonst üblichen Großevents der Wirtschaft oder der Unterhaltungskultur. Es hat schon etwas Rituelles, wie hier nun alles in eigenwilliges, bläuliches Licht getaucht ist und wo eine Schar von Verrückten einen Kreis um die Band Skylla bildet. Das ist die Band von Ruth Goller, eine ganz und gar eigenwillige Verbindung von E-Bass, Schlagzeug und gleich drei weiblichen Gesangsstimmen, deren Sphärengesang, von hypnotisierend repetitiven E-Bass-Mustern scheinbar gelenkt, um ein Zentrum auf einer höheren Daseinsebene kreist. Nach Ruth Gollers Bekunden drücken die Stücke Skyllas ihren eigenen Stream of Consciousness aus. Keine Frage – so etwas hatte diese Halle wohl noch nicht vorher erlebt. Allein, weil jedes Konzert von Skylla (sie waren vorher ja auch in Moers) immer eine Neu-Erfahrung markiert.

Neue Kooperationen erweisen sich als fruchtbar

Das neue Leitungsteam ist seit letztem Jahr engagiert dabei, das Festival mit seiner durch Klaus Widmann langjährig aufgebauten DNA kreativ in die Zukunft zu denken. Bei der Programmplanung ziehen Max von Pretz, Roberto Tubaro und Stefan Festini Cucco neue Quellen heran, setzen auf das international vernetzte Nehmen und Geben innerhalb einer dynamischen jungen Musikszene im Fokus steht. Mehr Gewicht bekommen überregionale Kooperationen mit anderen Festivals, ebenso Förderinstitutionen wie dem NICA-Artists-Netzwerk, was auf jeden Fall der gemeinsamen Sache, um die es geht, gut tut: Dem Engagment für eine vereinigte (Musik-) Kultur aller Länder, um allen äußeren, ökonomischen wie gesellschaftlichen Widerständen erfolgreich zu trotzen. Um Eigenständigkeit braucht man sich auf dem Südtirol-Festival keine Sorgen zu machen, lebt hier doch genug produktiver sozialer Kosmos, um aus Vorhandenem neue Verbindungen zu nähren und vieles, so nicht für möglich Gehaltene, entstehen zu lassen.

Gute Verbindungen

Davon hatte sich zum Beispiel auch die aus Russland stammende, in Leipzig lebende Pianistin und Keyboarderin Olga Reznichenko anstecken lassen, die sich in etlichen Besetzungen immer neu erfand. In der Band Crutches war sie beteiligt an einer höchst plausiblen Fusion aus punkiger Attitüde und virtuosem musikalischen Aberwitz. So geht es, sämtliche Schubladengrenzen von Jazz mit der Wucht einer Sprengladung niederzureißen, auf dass dazu ausschweifend gefeiert werden darf von einem potenziell jungen Publikum, das jetzt nur noch kommen sollte, damit die Party losgeht.

 

Was improvisierende Musikerinnen und Musiker aus dem Moment schöpfen können, stellte ein Filmkonzert in Kooperation mit dem Bozener Filmclub unter Beweis. Saxophonist Daniel Erdmann, die impulsive Schlagzeugerin Francesca Remigi und nochmal Olga Reznichenko an ihrem Umhänge-Keyboard improvisierten völlig aus dem Stegreif heraus zum bildgewaltigen Action-Stummfilm „Mr Radio“ aus dem Jahr 1924, in dem schon vor 100 Jahren alle Register eines opulenten Action-Kinos gezogen wurden. Die Rollenverteilung für die musikalische Interaktion des Trios ergab sich wie von selbst: Saxophonist Daniel Erdmann trieb in seinem Spiel die Emotionen fast schon leitmotivisch voran. Olga Reznichenko übersetzte die Bilderflut des Films in eine schillernde Klangfarbenvielfalt, während Schlagzeugerin Francesca Remigi dafür sorgte, dass jeder Kubikzentimeter des Raumes mit der ganzen dramatischen Energie der aberwitzigen Filmhandlung angefüllt war.

Kammermusikalische Kleinode und swingende Holzhütten

Viel leiser, aber mit kaum weniger kreativer Energie ging es bei einem Morgenkonzert in der am Unterstützer-Netzwerk beteiligten Spirituosen-Brennerei Roner zu, als die amerikanische Theremin-Spielerin Pamela Stickney und der Gitarrist Peter Rom ein kammermusikalisches Kleinod schufen: Verbreitet das Spiel auf dem Theremin, das manchmal wie ein imaginäres, unsichtbares Saiteninstrument anmutet, ohnehin schon fast eine mystische Note, so überwältigte das Duo mit einem impulsiven Kaleidoskop aus lyrischer Klangpoesie und zahlreichen Einflüssen aus vielen Stilistiken. Als beide schließlich in einem Stück von Olivier Messiaen „ankamen“, verkörperte dies so viel Überzeugungskraft, als hätte Messiaen genau dieses Duo mit diesem wundersamen elektrischen Instrument bei der Komposition seines Stückes im Sinne gehabt – welches aber im Original eine Vokalkomposition ist.

Das Sich-Entführen-Lassen an besondere Orte gestaltet sich manchmal unvorhersehbar, vor allem, wenn das Bergwetter nicht mitspielt. So musste das Trio Haezz sein geplantes Freiluftkonzert hoch oben auf den Almwiesen beim Rittnerhorn in eine Holzhütte verlegen. Aber das behagliche Setting, bei dem das Publikum auf Strohballen saß, gab einmal mehr der Verwandlungskunst dieses Festivals Nahrung: Plötzlich war aus der Scheune ein alpiner, swingender Jazzclub geworden, in dem auch mal eine Hommage an Thelonious Monk erlaubt war – manches ist einfach so zeitlos, dass es sich auch in die vor Spielwitz und Fantasie sprühende Gegenwart dieses Trios einfühlt, von dem man gerne noch viel mehr hören möchte.

Das Südtirol-Festival ist kein Massenevent und will es auch nicht sein. Dennoch rollt das Festival auch immer roter Teppiche aus, um einladenden Wohlklang an schöne, stilvolle Locations zu bieten. Die lauschige, große Parkanlage des ehrwürdigen Grandhotels Laurin mit Pool und unter Bäumen, begleitet von Vogelgezwitscher und Glockenläuten war dann auch das vierte „imaginäre Bandmitglied“ für das zu den kühlen Drinks leichtfüßig in hellen Farben freundlich jazzende Trio um den Münchener Pianisten Nils Kugelmann.

Der Batzen

Der Batzen ist das Festivallokal, de facto eine Brauerei mit einem riesigen Draußen-Gastro-Bereich, in dem viele vorwitzige kleine Spatzen einem die Krümel von den Tellern picken und wo in diesen Tagen vor allem die Fußballübertragungen den letzten Platz füllten. Eine Etage tiefer, im Sudwerk, waltet das wohl konzentrierteste musikalische Versuchslabor des Festivals. Hier wurde dann auch die mehrstündige Performance „Kabarila“ fortgesetzt, die von dem Ethnologen Stefan Cucco Festini ausgedacht und vom Bassisten Lukas Kranzelbinder realisiert worden war mit dem Ziel, auf der Basis archaischer Trance-Rituale und von Elementen aus der Rave-Kultur konventionelle Zeit- und damit Erlebnisformate größer und freier zu machen.

Rituale der Zukunft

Fünf Jahre lang soll mit fünf Musikern jeweils fünf Stunden lang musiziert werden. Begonnen wurde im letzten Jahr. Die Zukunft ist also auch für dieses Unterfangen noch groß. Geerdet durch die Bassfiguren von Lukas Kranzelbinder und getaktet durch einen präzisen Schlagzeugpuls, ebenso durch oft psychedelische Sounderuptionen von Querflöten und Saxofonen entstanden auch in der zweiten Folge bis tief in die Nacht hinein genug aufreizende Prozesse. Deutlich stärker ausgeprägt als im letzten Jahr, wo es viel dancefloor-affiner seinen Lauf genommen hatte, überwog bei der diesjährigen Kabarila-Auflage in diesem Jahr der performative Effekt – vor allem durch die beiden Tänzerinnen und zwei Tänzer, die auch ins Geschehen auf der Bühne körperlich intervenierten.

Fragil Vokales

Ruth Gollers Band „Training“ zeigte beim letzten Abendkonzert des Festivals klare Kante, wenn es um kraftvolle Antworten auf die laute Gegenwart geht und wo diese Bassistin ihr Instrument immer wieder so konsequent wie kaum sonst jemand als Lead-Instrument, aber auch als wundersame lyrische Stimme emanzipiert. Dystopischer Noise als Statement für kulturellen Mut, sich nicht mit vorgefertigten Schablonen zufrieden zu geben, sondern auszubrechen, aktiv und laut zu werden. Was aber auch die zarte Empfindung nicht ausschließt, wie sie sich in Ruth Gollers fragilen Vokaleinlagen, die überhaupt immer mehr ihre Stimme als Instrument für sich entdeckt, ausdrückt.
Richtig weltumarmend war es noch ein Konzert zuvor geworden, als Lukas Kranzelbinders Band „Shake Stew“ repetitive Rhythmik und hymnische Bläsersätze in einem Amalgam aus Afrobeat und progressivem Jazz vereinte.

Tief bewegt wirke die Bühnenansprache Kranzelbinders, der hier nochmal seinen eigenen persönlichen Bezug zu diesem Festival bekundete und damit wohl für viele sprach. Beim Südtirol Alto Adige Festival stehen eben auch die Veranstalter selbst in der allerersten Reihe des Publikums, um die Musikerinnen und Musiker, deren konsequentes Tun anscheinend nie versiegen wird, enthusiastisch anzufeuern.

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