Gleich beim Start der diesjährigen Ausgabe wurde das Südtirol Jazzfestival wieder seinem Ruf als Festival für Entdecker gerecht. Ein Ruf, der auf zwei Säulen ruht. Auf einem Programm, das wie kaum ein anderes auf junge, in der Fremde und Breite meist noch unbekannte europäische Improvisatoren setzt. Und auf dem Gedanken, die Musik mit den außergewöhnlichsten Spielorten und der einzigartigen Natur Südtirols zusammenzubringen.
So wartete schon das vierteilige Eröffnungskonzert am 28. Juni, mit einem neuen Spielort auf: Das Gelände und die Halle der 1965 (!) aufgelassenen Holzfaserfabrik Feltrinelli im zentrumsnahen Industriequartier Römerbrücke gab einen ungewöhnlichen Industrial-Rahmen ab. Zur Einstimmung bespielten im von Charme toter Technik geprägten Hof das eigens aus sechs heimischen Bläsern und Perkussionisten zusammengestellte Human Magnetic Reception Ensemble herumwandernd (und immersiv, wie man das heute nennt) die noch mit Begrüßungsgetränk und -geplauder beschäftigten Gäste.
Drinnen in der riesigen, herausgeputzten Halle ging es still und konzentriert weiter: Die estnische Saxofonistin Maria Faust stellte mit „Mass of Mary“ ihre erste Arbeit mit einem ihrem Bläserquartett und einem Chor vor. Eine berückende, klangschöne Mischung aus mittelalterlicher Musik samt liturgischen Gesängen, zeitgenössischer Klassik, Elementen der estnischen Folk- und Gesangstradition und natürlich auch Jazz, was Harmonik, Rhythmik und partiell auch freie Gestaltung angeht. Danach ging es wieder raus, wo auf der ehemaligen Laderampe das walisische Trio Hippo mit krachendem, aber einfallsreichem und zum Setting passendem Electro-Jazz zu Werke ging. Auf das abschließende, wohl bis sechs Uhr früh dauernde DJ-Set hat der Berichterstatter verzichtet, das nächste Musikerlebnis stand ja schon bald auf dem Programm. Immerhin kamen ihm beim Verlassen junge Eintretende entgegen.
Typischer Auftakt
Dieser Auftakt war wieder ein typischer Move des Südtirol Jazzfestivals, den von der Vergangenheit und Tradition grundierten Blick auf die Gegenwart und die Zukunft zu lenken. Was schon den Spielort betrifft: Das Quartier Römerbrücke ist ein laufendes – privates – Stadtentwicklungsexperiment, ein Projekt für integriertes, bezahlbares Wohnen: Studentenwohnheime, günstige Appartements und Kulturräume sollen hier entstehen. Aber auch die präsentierte Musik: Maria Fausts so kultivierte, wohlklingende Messe ist thematisch den Opfern häuslicher Gewalt gewidmet. Und Hippo steht für das Festival-Markenzeichen, Newcomer zu finden, von denen man später noch hören wird. Dazu darf man die beiden französischen Holzbläser Bastien Weeger und Julien Stella rechnen, die als Duo NoSax NoClar an den folgenden beiden Tagen zu Berg-Ausflügen aufs Vigiljoch (auch eine grandiose neue Location) und den Speikboden einluden: Alpine Grandezza traf auf ebenso staunenswerte
Der langjährige Festivalleiter Klaus Widmann hatte für solche Talente ein bemerkenswertes Näschen. Von Kit Downes oder Marco Mezquida bis zu Ruth Goller Leila Martial oder Rainier Baas präsentierte er Musiker (oft als artists in residence), die seinerzeit selbst Fachleuten unbekannt waren und heute zum Inventar der europäischen Szene gehören. Die bei seinem Abschied vor zwei Jahren ebenfalls zum Ende gekommene Schwerpunktsetzung auf einzelne Länder und Regionen half ihm dabei.
Das neue Triumvirat von Stefan Festini Cucco, Max von Pretz und Roberto Tubaro muss neue Schwerpunkte erst finden und setzt bislang eher auf Musiker, die man schon Journalistenlieblinge nennen kann. Die aber fürs Südtiroler Publikum trotzdem zumeist neu sind, wie von Pretz richtigerweise betont. Das waren jetzt unter anderem der Berliner Schlagzeuger Tilo Weber, der in vielen Rollen zu sehen war: Als Leiter eines Workshops „Sound, Time & Space“ mit kleinem Solo-Konzert im Goethe-Haus, als gleichwertiger Duo-Partner des französischen Geigen-Stars Theo Cecchaldi im Waaghaus-Keller und als feinfühliger Begleiter des Flötenquintetts Nancelot der Schweizerin Nancy Meier – die in ihren Kompositionen sehr modern und doch sehr genussreich die Charakteristika ihrer Haus-Pflanzen vertonte. Immer präsentierte er sich als flinker Improvisationsmeister, freilich kein neuer wilder Lillinger, eher eine Art europäischer Ari Hoenig, so melodisch, wie er spielte.
Bozener Sound-Chemie
Ein bisschen Fußball-geschädigt, vielleicht aber auch von der Reduktion auf ein abendliches Konzert im „Basecamp“ des Bozener Kapuzinerparks betroffen („wir haben zu viele andere Konzerte, und wollen wieder mehr ganz Südtirol in den Blick nehmen“, erklärte Stefan Festini) waren am Wochenende die preisgekrönten ostdeutschen Noise-Freejazzer Malstrom und das gleichfalls sehr rockig-wilde, dazwischen aber auch entspannt-ironische internationale Quartett Bonbon Flamme. Wobei Daniel Erdmanns Velvet Revolution (bekanntlich auch mit Theo Cecchaldi, der hier auch eine Art artist in residence war – weswegen beim zweiten Konzert in Brixen dann auch erstmals die Geigerin Fabiana Striffler in die Band rutschte) dann ausgerechnet am Montag wieder das gewohnt volle Zelt hatte. Vielleicht dann doch die Zugkraft eines bekannten Namens. Indes, auch tags darauf beim ebenfalls spannend experimentellen Power-Quartett ØKSE war es voll, was sich bei dem vor zwei Jahren als Auftragsarbeit des Jazzfestivals Saalfelden an Mette Rasmussen und der US-Schlagzeugerin Savannah Harris entstandenen, nun um Bassist Patter Eldh und „sound chemist“ Val Jeanty an Reglern und Konsolen erweiterten Projekt auch lohnte.
Zum zweiten Mal ging es in den Bunker H, dieses gespenstische, von den Nazis erbaute Luftschutz-Tunnelreich, dessen monströse Geschichte nun von den überbordenden Saxofonklängen von Mette Rasmussen und der alle Geräusch- und Klangmöglichkeiten ausreizenden Stimme von Sofia Jernberg – die man selten besser gehört hat – kontrastiert und konterkariert wurde.
After Midnight im Batzen
Schon seit einigen Jahren zur Tradition geworden sind die fast mitternächtlichen Ausklänge des Tages im Keller des Bozener Batzenbräu – ohnehin eine heimliche zweite Festival-Zentrale, in der sich alle zum Essen, Trinken und Reden treffen. Hier ging es fast immer, house-orientiert, genre-negierend und wild improvisierend zu. Langsam angehend beim Solo-Auftritt des Schlagzeugers Oli Steidle, dann mit dem Quartett Y-Otis des schwedischen Saxofonisten Otis Sandsjö, dem Polyplay-Trio des „Beatdenkers“ Jo Wespel und dem Leipziger und Berliner Quartett Crutches immer wuchtiger. Bei den letzten sorgte eine jeweils völlig anders gekleidete Olga Reznichenko für ebenso unterschiedliche, aber beide Male beeindruckende Keyboard-Akzente.
Quasi in die Halbzeit der 52 Events mit 56 Konzerten ging es mit dem auch schon bewährten – und auch aus kulinarischer Sicht zu den Pflichtterminen gehörenden – „Abschlusskonzert“ der Musiker, die auf dem Stanglerhof unterm Schlern eine „artist residency“-Woche verbringen dürfen. Diesmal hatten die – allerdings ja der britischen Szene zugehörige – Lokalmatadorin Ruth Goller, der italienische Vibrafonist Mirko Pedrotti und der deutsche Schlagzeuger Daniel Klein die Ehre, und bedankten sich mit einem fast ungewohnt lyrischen, stürmisch gefeierten Vortrag.
So gab es schon nach der ersten Hälfte wieder viele Gründe, warum das Südtirol Jazzfestival, dieses musikalisch-kulinarisch-touristisch-historisch-visuelle Gesamtpaket mit wechselnden Anteilen für viele Festival-Profis ihr Liebling ist. Und so viele europäische Institutionen hier gerne als „kulturelle Partner“ andocken. Mehr zur vielversprechenden zweiten Hälfte demnächst an dieser Stelle.
Text und Fotos: Oliver Hochkeppel
Titelfoto: Die beiden französischen Holzbläser Bastien Weeger und Julien Stella als Duo NoSax NoClar