Der Vergessene: „Misty – The Erroll Garner Story“ beim Dok-Fest München

Von Oliver Hochkeppel. Festival-Weltpremiere: Georges Gachots beim Münchner Dok-Fest uraufgeführter Film erinnert an den erfolgreichsten Jazzpianisten der Fünfzigerjahre. Schon 2006 schrieb der Münchner Pianist und Autor Ernst Burger im Vorwort seiner exzellenten, im Conbrio-Verlag erschienenen Erroll-Garner-Biografie, dass Garner „nach seinem frühen Tod bei uns etwas in Vergessenheit geriet“. Heute gilt das mehr denn je: Der berühmteste und erfolgreichste Jazzpianist der Fünfzigerjahre, obendrein einer der ganz wenigen Auserwählten, der gewissermaßen als fertiges Genie auf die Welt kam und nie eine Unterrichtsstunde oder Noten brauchte, ist inzwischen selbst manchen amerikanischen Jazzmusikern unbekannt, von der deutschen Allgemeinheit einmal ganz abgesehen.

„Misty – The Erroll Garner Story“

Umso erfreulicher also, dass der Franko-Schweizer Regisseur Georges Gachot mit dem 100-minütigen Dokumentarfilm „Misty – The Erroll Garner Story“ jetzt wieder an ihn erinnert. Gachot ist ein Profi im Metier, seit den frühen Neunzigerjahren hat er vor allem klassische Musiker porträtiert, von Wilhelm Killmayer und Wilfried Hiller über Debussy und Schedrin bis zu Martha Argerich. Zuletzt auch über brasilianische Musiker wie Joao Gilberto. Auf Garner ist er wohl über Burgers Biografie gekommen, auch Burger hat ja zuvor ebenfalls vor allem über Klassiker geschrieben, am liebsten über Improvisatoren wie Liszt.

Nils Petter Molvaer & Ernest McCarthy

Bei der Weltpremiere im Deutschen Theater standen danach nicht nur Gachot mit seiner gesamten Film- und Produktionscrew, Burger und dem auch im Film vorkommenden Garner-Fan und -Buchautor von 1985 James Doran auf der Bühne, sondern auch zwei Musiker: Der norwegische Star-Trompeter Nils Petter Molvaer, der für den nicht immer reibungslos neben Garners Musik eingesetzten Film-Score verantwortlich war, und der 87-jährige Ernest McCarthy, Erroll Garners letzter Bassist. Beide improvisierten direkt nach der Vorführung gemeinsam über zwei Garner-Stücke, was McCarthy – für alle berührend – sichtlich zu Herzen ging.

Mit dem Film freilich kann man als Garner-Fan und -Kenner nicht uneingeschränkt zufrieden sein. Zum einen, weil er nicht kritisch genug mit seinem Material umging. Unkommentiert wurde mitunter die Schönfärberei alter amerikanischer TV-Shows gezeigt. Etwa wenn Garner da gefragt wird, ob er je Nachteile erfahren hätte, weil er schwarz ist, und er natürlich pflichtgemäß lügt: „Nein, nie. Ganz ehrlich.“ In Wahrheit hat Garner natürlich von frühester Kindheit an Rassentrennung und Diskriminierung erlebt und Paris und Frankreich auch deshalb so geliebt, weil er dort nicht nur wie ein Star, sondern wie ein Mensch behandelt wurde. Und so hat er sich auch normalerweise nicht, wie in einem anderen Ausschnitt vom Moderator hervorgehoben, das Telefonbuch von Chicago auf den Klavierhocker gelegt, sondern das von Paris. Auch die zwiespältige Rolle von Garner legendärer Managerin Martha Glaser wird mit ein paar Zitaten eher abgehakt als erhellt.

Unfassbare Spieltechnik

Noch schwerer wiegt, dass die Kunst Garners zu kurz kommt. Es gibt von kaum einem anderen Jazzer seiner Zeit so viele Filmaufnahmen, etliche illustrieren Garners nahezu unfassbare Spieltechnik plastisch. Ob aus rechtlichen Gründen oder erzählerischen Erwägungen, Gachots Film zeigt davon viel zu wenig. Umso mehr der Regisseur verständlicherweise auf der Suche nach einem Drama. Leider gibt das Leben Garners, abgesehen von seinem frühen Tod, dafür nicht viel her. Also konzentriert sich Gachot stark, mitunter fast voyeuristisch, auf die noch lebende letzte Geliebte und die verschwiegene, nie anerkannte Tochter. Beide sind, das wird schnell deutlich, zu einem Teil mit ihm mitgestorben. Ihr auch mit gescripteten Begegnungen in Szene gesetztes anhaltendes Leid sagt aber wenig über Garner aus, den alle Zeitzeugen als den einfachen, schüchternen, herzensguten, ganz der Musik verschriebenen Menschen schildern, der er war. Ohnehin hätte man lieber etwas mehr über die Familie Garners und das Verhältnis zu seinen fünf Geschwistern, insbesondere zu seinem sehr geliebten geistig behinderten Zwillingsbruder erfahren.

Sinnvolle Wiederentdeckung

Man wünscht dem anfangs durchaus fesselnden Film trotz seiner Mängel eine möglichst erfolgreiche Kinoauswertung. Weil eine Wiederentdeckung Erroll Garners ähnlich wertvoll wäre wie die des nach seinem Tod bekanntlich ebenfalls jahrzehntelang vergessenen Johann Sebastian Bach. Beides Solitäre und Genies der Musikgeschichte war Garner obendrein ein Aißenseiter, der in keine „Szene“ passte, der abgesehen von seinem Trio selten mit anderen spielte und keiner Stilrichtung außer seinem eigenen angehörte. Seine von Anfang an in ihm angelegte Musik bleibt unerreicht und unkopierbar. Sie wäre aber heute mehr denn je zugänglich und mitreißend. Das hätte der Film noch klarer herausarbeiten können.

Text und Fotos: Oliver Hochkeppel

Das Beitragsbild zeigt Ernest McCarthy, den letzten Bassisten von Erroll Garner, umarmt von Trompeter Nils Petter Molvaer nach ihrem Kurzauftritt nach der Filmpremiere.

Weitere Bilder: Bei der Weltpremiere im Rahmen des Dok-Fests im Deutschen Theater war die komplette Filmcrew anwesend.

 

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