Charisma des Protests: Pussy Riot im Dortmunder domicil

Immer wieder wachrütteln

„Freiheit gibt es nur so lange, wie man für Freiheit kämpft“, war nur einer der vielen Sätze, mit dem das Publikum klar kommen musste, als die legendären Provokateurinnen von Pussy Riot im Dortmund domicil ihre Musikrevolution entfesselten. Diana Burkot, Marija Aljochina, Olga Borisova und Alina Petrova, die die aktuelle Besetzung bildeten, protokollierten in ihrer etwa einstündigen Show das erlebte Absterben von Bürgerrechten, zerstörten die Heuchelei der Propaganda und riefen zum Widerstand auf. Natürlich gedachten sie auch dem mutmaßlich vom russischen Regime getöteten Dissidenten Alexey Nawalny, ebenso galt Pussy Riot´s solidarisches Mitgefühl den Menschen in der angegriffenen Ukraine.

Man könnte sich fragen, warum die vier Performerinnen so viele Wasserflaschen auf der Bühne stehen hatten, aber dazu später. Vom ersten Moment an liegt Entschlossenheit und Rebellion in der Luft. Brachiale Beats aus dem Schlagzeug von Diana Burkot und dystopische Sirenenklänge von Alina Petrovas elektrischer Violine ziehen in eine ruhelos treibende Fusion aus Musik und Aktivismus hinein, die die Grenzen des Sagbaren und Machbaren auch im Dortmunder domicil herausfordern sollte.

Auch musikalisch sehr bewegt

Es sind nicht nur die Elektrobeats und anklagenden Wortsalven in russischer Sprache, die den unbestuhlten Raum unter Hochspannung setzen. Ebenso protokollieren die übersetzten Slogans auf dem Breitwandscreen die immer unaufhaltsamer wuchernden totalitären Strukturen in der russischen Gesellschaft. Das Kollektiv „Pussy Riot“ gründete sich im Jahr 2012, als in Russland noch so etwas wie kulturelle Freiheit herrschte – einige frühe Happenings von Pussy Riot waren sogar preisgekrönt worden. Schon wenig später gab es die ersten Haftstrafen für deutlich weniger. Zum Wendepunkt wurde eine Aktion in einer Moskauer Kathedrale. Es folgten Inhaftierung und viel später die geglückte Flucht aus dem Hausarrest.

 

Die Flamme des Widerstands verlischt nicht

Ein Bild von der Superluxusjacht eines hochrangigen Kirchenführers spielt auf mafiösen Strukturen an, mit denen sich die Kirche zum Komplizen der Gewaltherrschaft macht. „Priesterinnen gibt es in Russland nicht. In Russland gibt es Pussy Riot“, lautet ein weiterer Slogan. Aber:  „Putin wird dir schon beibringen, dein Mutterland zu lieben.“ Der Videoscreen zeigt brutale Sicherheitskräfte, wie sie dabei vorgehen und was zwei Aktivistinnen von Pussy Riot nach ihrer Inhaftierung durchleiden mussten. Die Flamme des inneren Widerstands bringt dies nicht zum Erlöschen: „Der erste Hungerstreik ist wie die erste Liebe: sehr verwirrend. Später gewöhnt man sich daran“. Marja Aljochinas Sneaker, die sie auch bei ihrem Auftritt im domicil trug, sind immer noch mit zusammen gerollten Feuchttüchern geschnürt, denn: „Im Gefängnis nehmen sie einem die Schnürsenkel weg, da muss man erfinderisch werden.“

Doktrin der Tat

Als sich die Liveshow nach diesem lyrischen Zwischenteil wieder zu einem heißen Stakkato aus Beats, Tanzposen und Wortsalven steigert, ziehen sie bunte Sturmhauben über, die zum Markenzeichen von Pussy Riots feministischer Dissidenz geworden sind. Jetzt kommen die Wasserflaschen ins Spiel: Sie öffnen sie alle nacheinander und spritzen den kalten Inhalt ins Publikum – überall hin, minutenlang. Raus aus der Komfortzone, in der Musik und Popkultur wohlfeiles Konsumgut sind – könnte die Botschaft hinter dieser etwas ungemütlichen Erfrischung lauten. „Anyone can be Pussy Riot. Freedom yours and mine. Aufstand in Russland.“

Auch von „Charisma des Protests“ ist dabei die Rede – und genau das trifft es, wenn es darum geht, die Überzeugungskraft dieser mutigen Künstlerinnen zu charakterisieren. Geflohen sind Pussy Riot aus Russland vor allem deshalb, um ihre Botschaft weiterhin auf alle Livebühnen bringen können. Wer jetzt noch mehr tun möchte, als im Nachhinein von den Eindrücken dieser unvergleichlichen wie notwendigen Darbietung zu zehren, der kann jenes ukrainische Kinderkrankenhaus finanziell unterstützen, für das sich Pussy Riot selber stark macht. Denn nicht nur die gelbblaue Flagge, sondern auch der  QR-Code zur Spendenaktion wurde auf der Bühne hochgehalten.

Text und Fotos: Stefan Pieper

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