Aufbruch in den Jazz: Eindrücke vom 1. Internationalen Jazz Festival im saudi-arabischen Riad

Der Jazz wird Teil der saudischen Kulturpolitik

Im „Alten Europa“, wie es ein gewisser US-Präsident einmal formulierte, tut man sich mit Veränderungen immer schwerer. Wenn hierzulande in einem jahrelangen Prozess das Heizen umgestellt werden soll, gibt es nahezu einen Volksaufstand; der Bau von Flughäfen oder Schnellbahnlinien dauert Jahrzehnte; die Briten traten gar wohl auch deshalb aus der Europäischen Union aus, weil sich zu viele nach dem alten Empire zurücksehnten. Darüber kann man im Mittleren Osten nur lachen. Die Arabischen Emirate, Katar und Bahrain machten mit ihren in kürzester Zeit errichteten Wolkenkratzerstädten vor, wie man Öl- und Gas-Reichtum umwandelt. Der 42-Millionen-Staat Saudi-Arabien unter Mohammed bin Salman aber ist aktuell der neue Taktgeber. Bei uns wird davon bislang vor allem das saudische Engagement im Weltsport bemerkt, weniger die

milliardenschwere Offensive auch bei Bildung und Kultur.

Ein weiterer kleiner Baustein dabei ist das soeben zu Ende gegangene dreitägige „1. International Jazz Festival Riad“ – in einem Land, in dem bis vor sieben Jahren öffentliche Konzerte noch verboten waren. Als Riadnovize staunt man schon auf der Fahrt ins Mayadeen Theatre, dem Festival-Spielort im nordwestlich gelegenen Stadtteil Diriya, um dessen zum Weltkulturerbe ernannten Ruinen herum gerade ein touristisches Zentrum der Sonderklasse entsteht. In der Viermillionenstadt wird an jeder Ecke gebaut, überall fährt man an brandneuen Hochhäusern, Malls und Universitäten vorbei. Ist man im für gut 2000 Besucher sehr großzügig bestuhlten Festivalsaal angelangt, werden die Augen nicht kleiner. Selten wird man bei einem europäischen Festival eine ähnlich große, ähnlich aufwendig und doch funktional bestückte Bühne finden, alleine die vier hochbrillanten Großbildschirme an den Seiten sieht man bei uns nur bei Pop-Festivals.

Verantwortlich für das Ganze zeichnet der Brite Paul Pacifico, von 2016 bis 2022 Präsident der Association of Independent Music (AIM) in London, seit eineinhalb Jahren nun der CEO der „Saudi Music Commission“, einer von elf frisch gegründeten Sektionen des Kulturministeriums für alle Kultursparten. Ausgestattet mit einem sicher nicht unterdimensionierten Budget klopfte er ein eindrucksvolles „Einstiegsprogramm“ in den Jazz zusammen. Mit den renommierten britischen und australischen Bands Kokoroko, The Cat Empire und Haitus Kaiyote und mit YolanDa Brown, Masego und Chaka Khan als Headliner. Aber auch mit jeweils einer arabischen Band als erstem Act der drei Abende.

Das demonstriert schon die unterschiedliche Vorgehensweise als in den meisten anderen Golfstaaten, in denen Westliches samt Personal schlicht eingekauft wird. In Saudi-Arabien will man auch die Blaupausen, die Assimilation und die eigene Anwendung – zu Paul Pacificos Aufbauarbeit in den kommenden Jahren wird auch die Einarbeitung eines saudischen Nachfolgers gehören. Freilich bedeutet all dies in dem bislang ultrastrengen wahabitischen Religionsstaat gleichzeitig eine mit einigem Konfliktpotenzial und chronischem Austesten der Grenzen verbundene radikale gesellschaftliche Transformation. Ganz besonders, was die Frauenrechte betrifft.

Die überraschende Stellung der Frauen im Festival und kulturelle Faux-pas

Umso erstaunlicher war das selbst nach westlichen Maßstäben geradezu feministische Line-Up des Festivals. Fast durchgehend standen starke Frauen im Mittelpunkt. YolanDa Brown und Chaka Khan sowieso, aber auch bei Kokoroko sind Sheila Maurice-Grey und Cassie Kinoshi die Masterminds, bei Haitus Kaiyote Nai Palm, bei The Cat Empire neuerdings Grace Barbé. Vor allem aber Nadeen Lingawi alias Fulana stand für die Öffnung und den Wandel, der derzeit stattfindet. Die 28-jährige, in Vancouver geborene, aber in Dschidda lebende Sängerin, die eigentlich Architektin ist, begann vor gut zehn Jahren gewissermaßen therapeutisch und durchaus im Konflikt mit ihrer Familie mit der Musik, veröffentlichte dann erste Songs unter ihrem Pseudonym und gehört nun zu den führende Indie-Musikern der saudischen Szene, die mit Ahmed Shawlys Label „Wall of Sound“ auch eine organisatorische Heimat gefunden hat. Seit 2021 spielt sie regelmäßig immer größere Konzerte im Land. Auch wenn ihre im Duo rein elektronisch instrumentierten Songs nur schwerlich selbst einem erweiterten Jazzbegriff zuzuordnen sind, hatte die ohne Kopftuch Auftretende hier viele begeisterte Fans im Saal.

Noch revolutionärer war freilich der Auftritt von Chaka Khan am zweiten Tag. Die körperlich wie stimmlich erstaunlich fitte und wahrlich jünger als 70 wirkende R&B- und Funk-Queen, die als zehnfache Grammygewinnerin und Role Model zahlloser Stars entsprechend bombastisch angeteasert wurde, winkte am Schluss ihrer Hit-Parade von Rufus-Nummern bis zum emblematischen „I’m Every Woman“ gezielt das weibliche Publikum zum Tanzen und Handshake nach vorne. In Europa normal, im bis vor kurzem von der Sittenpolizei dominierten Saudi-Arabien eine kleine Revolution.

Beim extrovertierten Amerikaner Micah Davis, besser bekannt als Masego, wollte man am dritten Abend noch skandalöseres Verhalten dann doch besser verhindern, mit Sperrgittern in den Abgängen und seitlich Spalier stehenden Security-Leuten. Vielleicht nicht zu Unrecht angesichts seiner typisch amerikanischen Attitüde, und der Tatsache, dass außerehelicher Sex hier immer noch mit dem Tod bestraft werden kann. Umso unüberlegte wie deplatziert wirkt seine Begrüßung: „All I know about this country ist that I have good dates“. Was freilich die lautstarke Begeisterung für den 30-jährigen Grammy-Nominee nicht trübte, der im arabischen Raum noch populärer ist als im europäischen. Mit Recht, wie der sensationelle Auftritt des singenden, samplenden, Schlagzeug wie Saxofon spielenden Multitalents bewies. Rein musikalisch war es der Höhepunkt des Festivals, mit einem sich ständig weiterentwickelnden Stilmix aus Jazz, Hip-Hop, Reggae und Electro, mit der Variabilität eines Jacob Collier und dem Charisma eines Prince.

Eine gelungene musikalische Diversität

Einen höheren Jazzanteil hatten nur Kokoroko (vor allem dank ihrer Instrumentalsoli mit Trompete und Posaune) und natürlich Saxofonstar YolanDa Brown, in gewisser Weise auch die beiden Lokalmatadoren, die Quartette Majaz und Garwasha mit einem jeweils sehr arabisch eingefärbten Progressive- und Alternative-Underground-Jazz. Garwashas Gitarrist Mazen Lawand hat denn auch das Berklee College of Music absolviert, Bassist Abdulrahman „Koosh” Alkhawashki studiert gerade am Los Angeles College of Music. Beide können sie von der, auch dank der wachsenden internationalen Kontakte, aufblühenden Club- und Musikerszene in Riad berichten („Metal ist gerade am stärksten im Kommen“).

Anderes ließ sich kaum mehr selbst unter einem weitgefassten Jazzbegriff subsummieren. The Cat Empire darf man mit ihren mal lateinamerikanischen, mal afrokreolischen, mal schlicht rockigen Stücken klassischerweise dem World Pop zurechnen, genau wie Haitus Kaiyote einem rockig-lärmenden Neo-Soul. Macht ja nichts, dieses Festivaldebüt sollte ja ein attraktiver Schnupperkurs für das – ebenfalls im Gegensatz zu manchen vorzugsweise von Ex-Pats besuchten Festivals in den Emiraten – überwiegend heimische Publikum sein. Dies, und mehr als das, ist eindrucksvoll gelungen. Alles in einer Aufbruchsstimmung, die durchaus bewundernswert ist.

Von Oliver Hochkeppel

Titelbild: YolanDa Brown. Foto: Oliver Hochkeppel

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