Von Stefan Pieper. Auch in seiner kleinen „Shortcut“-Ausgabe bewies das Internationale Jazzfestival Münster zum Jahresauftakt seine verlässliche hohe Qualität und Relevanz, vor allem durch Premieren, welche die Fenster für die reiche aktuelle Musik in Europa weit öffnen – ebenso wie ein Konzert in der Dominikanerkirche, das einen spannenden Bezug zur Historie und reichen kulturellen Gegenwart der Stadt herstellte.
Auf der Höhe der Zeit
Schmücker kuratiert dieses Festival seit fast 40 Jahren und erneuert es immer wieder auf der Höhe der Zeit. Und das lief direkt zu Beginn der Konzert-Trilogie im Münsteraner Theater auf eine Zelebration maximaler künstlerischer Aufbruchsstimmung hinaus: Die junge italienische Violinistin Anaïs Drago ist „die“ Entdeckung schlechthin! Zusammen mit Federico Calcagno, der Klarinette und Bassklarinette spielt, und Max Trabucco am Schlagzeug und Perkussion entfaltet sich ein innovativer Musizieransatz, der spektakulären Gleichklang zwischen improvisatorischer, virtuoser, neutönerischer und lyrischer Bravour herstellt.
Kann man ein Instrument mehr lieben als diese junge Musikerin, die unter anderem das Orchestra Nazionale Jazz Giovani Talenti unter Paolo Damianis Leitung zu einer ihrer maßgebenden Talentschmieden zählt? Sie versteht und behandelt ihr Instrument ganzheitlich, so viel ist hör-, sicht- und spürbar. Zunächst spielt sich das Trio mit mehreren virtuosen Abgeh-Nummern warm, dann wird mit der Bearbeitung eines John-Cage-Stückes ein Schalter umgelegt: Die minimalistischen Texturen bieten Raum für maximale Improvisationslust. Schließlich nehmen sich die drei der wilden Leidenschaft und Rhythmik der osteuropäischen Musik an, nach wie vor auf einem Level, der die Luft brennen lässt.
Der idealistische Impuls lebt weiter
Münster hat im letzten Jahr den 375. Jahrestag des Westfälischen Friedens mit einer großen Inszenierung gefeiert. Ein riesengroßes Publikum, das den Prinzipalmarkt flutete, zeigte, dass gerade in verstörend unfriedlicher heutiger Zeit der Hunger nach pazifistischen Signalen wächst. Fritz Schmücker hatte dem Event die passenden Klänge gegeben. Unter anderem war auch der Drehleier-Virtuose Matthias Loibner mit von der Partie. Was lag also näher, als diesen idealistischen Impuls auch in die aktuelle Festivalausgabe mitzunehmen, nun zusammen mit dem vielgefragten Tuba- und Serpent-Spieler Michel Godard und dem schweizerischen Schlagzeuger Lucas Niggli. Auch diese beiden Musiker hatte Fritz Schmücker einst als überraschende Premieren aus dem Hut gezaubert. Beide sind seitdem immer wieder gern gesehen beim Münsters Jazzfestival. Hinzu kam jetzt noch die griechische Kanun-Spielerin Sofia Labropoulou, deren perkussive Saitenkunst ein hervorragendes Komplement zu Loibners sphärischem Drehleierspiel bildete.
Erhabene Atmosphäre flutete den Raum, genährt von mittelalterlichen Melodien und später auch mal einem Schubert-Zitat und zusammengehalten von der subtilen Klangmalerei von Schlagzeuger Lucas Niggli. Das war Stoff zum Abtauchen und Wegträumen im Zusammenwirken mit der prachtvollen Farbregie im Bühnenhintergrund des Münsteraner Theaters.
Einfach mal optimistisch sein!
Das Reizvolle an den kleinen Shortcut-Festivals mit drei Konzerten an einem Abend ist dieser kompakte Gleichklang aus musikalischen Eindrücken, die niemals zu zahlreich werden und deshalb umso nachhaltiger wirken: Das dritte Konzert des Abends gab „dem Jazz“ in aufrichtiger Diktion und ausgeschlafener Klarheit das Wort und das mit riesigem Spaßfaktor. Die Pianistin Zoe Rahman und ihr Oktett sind ein neuer Export aus der umtriebigen britischen Jazzszene. Der Bandname „Colour of Sound“ ist Programm. Zoe Rahman komponiert lyrisch mitreißende Stücke und soliert temperamentvoll auf dem Flügel. Das setzte genug motivierende Signale, um die hier versammelten, hervorragenden Solistinnen und Solisten auf Anhieb auf Wolke sieben zu katapultieren. Alle waren so tief in der Musik drin, dass die Klangfarben strahlten, Ideen funkelten und Emotionen wärmten. Mit so viel musikalischer Freude darf ruhig mal ein neues Jahr zuversichtlich begonnen werden.
Klangmeditation unter dem Foucaultschen Pendel
Es ist alles eine Frage des Standpunktes. Das imposante Foucaultsche Pendel, das in Münsters Dominikanerkirche an einem über 20 Meter langen Stahlseil hängt, bewegt sich eigentlich gar nicht – es ist die Erde drumherum in ihrer permanenten Rotation. Diesen Gedanken äußerte der französische Tubist, Bassist und Serpent-Spieler Michel Godard über Gerhard Richters bemerkenswertes Kunstwerk, das dieser der Stadt anlässlich seiner renommierten Skulpturenausstellung im Jahr 2018 geschenkt hat. Möglicherweise hatte Godards Nachdenken auch sein Spiel auf dem Serpent, jenem schlangenartigen Blechblasinstrument aus dem 16. Jahrhundert, inspiriert. Godards meditative Klänge schenkten dem Shortcut, der „kleinen Ausgabe“ des Internationalen Jazzfestivals Münster, ein lyrisches Finale. Teilweise spielte auch ein E-Bass mit, auf dem Godard eine Figur spielte und diese dann dem Loopgerät überließ.
Fotos: Stefan Pieper