Strahlend blauer Himmel – und alle vier Tage über 30 Grad. Da hielt der Produktionsleiter des Festivals, Bernd Zimmermann, in locker-unverblümten Bühnenansagen nicht hinter dem Berg, wie begeistert er über jede Besucherin und jeden Besucher bei solch einem Wetter war. Wer kam, konnte heftig schwitzend beglückt sein über ein vielfältiges Programm an sehr erlebenswerten Orten. Trancehafte elektronische Rhythmen, fesselnde Improvisationen an einer Kirchenorgel und außergewöhnlich tiefgründige Songs konnte man bei der zweiten Ausgabe von „New Colours“ Anfang September in und um Gelsenkirchen erleben – und nicht zuletzt ein lustvolles Flamenco-Jazz-Highlight, das vom Publikum geschlossen mit standing ovations gefeiert wurde. Musiker:innen wie die Kontrabassistin Lisa Hoppe, das belgische Trio Dishwasher, der englische Pianist und Organist Kit Downes und das Trio des spanischen Pianisten Daniel Garcia standen im Programm für den packenden Farbenreichtum des aktuellen Jazz.
Tolle Orte
„Wir sind durchschnittseinkommensmäßig ganz unten – aber diese Stadt ist schön“, brachte Zimmermann, der das Festival zusammen mit seiner Partnerin Susanne Pohlen gestaltet, das Phänomen Gelsenkirchen bei der Eröffnung auf einen einzigen Satz – und ergänzte: „Wir haben so tolle Orte hier, und die stellen wir vor“. Diese Orte reichten diesmal vom Nordsternturm, wo das Publikum neben der riesigen Treibscheibe der ehemaligen Förderanlage saß, bis hin zum „Musiktheater im Revier“, jenem Glasfassaden-Bau von 1959, dessen großflächige, tiefblaue Reliefs des Künstlers Yves Klein im Foyer hier die Kulisse für eines der Konzerte boten. Es sind geschichtsträchtige Orte, die mit der Musik reizvoll in Beziehung treten. Etwa mit derjenigen des Drehleier-Virtuosen Matthias Loibner und des Schlagzeuger Lucas Niggli: Loibner erwähnte scherzhaft, dass er neidisch sei auf die große Scheibe in dem 60 Meter hoch gelegenen Raum des Nordsternturms – als Spieler eines Instruments, das Saitentöne mit einer relativ kleinen Drehscheibe erzeugt. Was dieses Duo dann aber spielte, war eine leise Musik von enormer Intensität: Das Ächzen, Knarren, Sirren des archaischen Saiten-Instruments und das Rumoren, Grummeln, Pochen des Schlagzeugs verdichteten sich zu einem eindringlichen Strom soghaft kraftvoller Töne.
Vor dem Gelsenkirchener Blau
Vor dem „Gelsenkirchener Blau“ der Yves-Klein-Reliefs ließ das Quintett der Bassistin Lisa Hoppe schillernd-komplexe Songs erblühen, die demnächst unter dem Titel „Faking an imperfect Utopia“ erscheinen. Die Musikerinnen aus Deutschland, Israel und der Schweiz schufen filigrane Traumwelten mit elegischen Gesängen, melancholischen Posaunenlinien, scharfkonturierten Geigensounds und fein verzahnten Rhythmen, unter anderem mit einer von Gaya Feldheim Schorr gesungenen, ins Hebräische übersetzten Vertonung eines Else-Lasker-Schüler-Gedichts.
Sehr gut in diese Reihe passte ein Nachmittag in der von 1960 stammenden Matthäuskirche. Der englische Pianist und gelernte Kirchenorganist Kit Downes improvisierte dort an der Orgel. Ganz in die Tiefenschichten der Möglichkeiten tauchte Downes ein, mit Tönen, die er oft mittendrin die Gestalt wechseln ließ, indem er ständig feine Veränderungen an den Registerzügen vornahm. Klänge, die wuchsen, sich dehnten, polyphone Breite einnahmen und dann wieder leise flötend erstarben. Die Orgel als eine Art Synthesizer – Klang-Entdeckungen in einem besonders hellen, klaren sakralen Raum. Einer der vielen spannenden Momente in einem Festival, das viel gut Durchdachtes zu bieten hatte. Mit solch einem Programm kommt sie zur Geltung – die Schönheit im Revier.
Text und Beitragsbild: Roland Spiegel