Nach 17 Jahren als künstlerische Leitung der jazzahead! übergeben Uli Beckerhoff und Peter Schulze an den 21 Jahre jüngeren Götz Bühler. Der festivalerfahrene Hamburger Journalist und Labelmanager hat 2021 die digitale Ausgabe der Bremer Fachmesse des Jazz und 2022 die dort angesiedelte Verleihung des Deutschen Jazzpreises moderiert. Als bestens vernetzter Multitasker war er der klare Wunschkandidat des Leitungsteams, zu dem von Seiten der Messe Bremen weiterhin Sybille Kornitschky gehören wird. Klaus von Seckendorff sprach für die JazzZeitung mit dem neuen künstlerischen Leiter.
Klaus von Seckendorff: Zwei künstlerische Leiter gehen, einer kommt. Lässt sich diese Aufgabe überhaupt bewältigen?
Götz Bühler: Auch wenn der Begriff „künstlerische Leitung“ das suggeriert: Es geht in Bremen ja nicht darum, wie bei einem normalen Jazzfestival ein komplettes Konzertprogramm zu kuratieren. Das wird auch nach so vielen Jahren jazzahead! noch häufig missverstanden, zum Beispiel von Musikern, die CDs an die „künstlerische Leitung“ schicken in der Hoffnung, dass sie gebucht werden. Ganz am Anfang gab es wohl noch Abendkonzerte im Kongresszentrum, für die Uli Beckerhoff und Peter Schulze selbst Musiker ausgewählt haben. Das hat sich geändert, als die jazzahead! zu einem Showcase-Festival geworden ist.
von Seckendorff: Wer entscheidet seitdem?
Bühler: Man bewirbt sich, und die Auswahl treffen vier international besetzte Jurys, deren Zusammensetzung die künstlerische Leitung jedes Jahr neu bestimmt. Uli und Peter haben dann jeweils in zwei dieser Jurys gesessen – als eine von sieben Stimmen.
von Seckendorff: Wie setzen sich die Jurys zusammen?
Bühler: Die Auswahl der Juroren ist für die künstlerische Leitung eine der wichtigsten Aufgaben, mit der viel Konzeptionelles verbunden ist. Hier kann man ganz bewusst gestalten, zum Beispiel den Anteil an Frauen oder die praktische Relevanz. Grundbedingung ist, dass die Jurymitglieder selber für Clubs oder Festivals buchen, deren Programme wir uns genau anschauen. Wir suchen nicht nach Musikjournalisten, die oft ganz andere Kriterien für ihre Entscheidungen haben.
von Seckendorff: Bei Deiner Aufgabe geht es um viele strategische Fragen, mit denen Kuratoren in der Regel nichts zu tun haben wollen.
Bühler: Es ist eine Arbeit, bei der man viel erreichen kann. Ich glaube, ich bin bei dieser Aufgabe gelandet, weil ich viele Aspekte der Jazzwelt kennengelernt habe und entsprechende Perspektiven mitbringe aus sowohl der journalistischen Arbeit als auch der bei Festivals von Elbjazz bis zu Jazz & The City oder in Vertrieben. Für mich wirkt das wie eine ganz natürliche Fortführung dessen, was ich eigentlich immer schon gemacht habe: meine Begeisterung für diese Musik in die Welt tragen, um andere damit anzustecken.
von Seckendorff: Wer ist denn die wichtigste Zielgruppe der jazzahead! ?
Bühler: Das sind eindeutig die Musiker selber. Um ihre Interessen geht es. Schon deshalb werden wir uns mit den Verfahren für Bewerbung und Auswahl intensiv befassen müssen. Dass es jedes Jahr mehr Anfragen gibt, ist offen gesagt nicht erfreulich, denn es bedeutet, dass man bei insgesamt 40 Showcase-Konzerten mehr und mehr auch wirklich gute Leute mit einer Absage frustrieren muss. Mal ganz abgesehen davon, dass es immer schwerer wird, Juroren zu finden für diese Mammutaufgabe.
von Seckendorff: Muss sich denn jeder alle Bewerber anhören?
Bühler: Natürlich nicht alle 800. Aber alle für den ihm zugeordneten Pool. Wir haben insgesamt vier international besetzte Jurys für die German Expo, Übersee und Europa. Hier musste man auf zwei Jurys aufteilen, weil es um knapp 500 Bewerbungen geht.
von Seckendorff: Wie läuft das Auswahlverfahren ab?
Bühler: Online in drei Abschnitten. Zunächst hören sich die Juroren und Jurorinnen alle Bewertungen für ihren Bereich an. Dann bewerten sie mit Ja oder Nein, jeder für sich, ohne zu wissen, wie sich die anderen entscheiden. Daraus ergibt sich schließlich ein Ranking, aus dem eine Shortlist erarbeitet wird. Schließlich gibt es eine virtuelle Konferenz, bei der auch über Aspekte diskutiert wird wie Gender, Herkunftsland oder Instrumentierung. Es macht ja keinen Sinn, dass lauter Klaviertrios zum Zug kommen oder vier von acht europäischen Acts aus Frankreich stammen.
von Seckendorff: Wo lässt sich Deiner Ansicht nach Wesentliches am Procedere verbessern?
Bühler: Wir wollen ja möglichst flächendeckend die besten europäischen Bewerber herausfinden. Es gibt aber schon bei den Nationen ein Ungleichgewicht. Da sind Länder wie Frankreich oder die Niederlande, aus denen ganz viele Bewerbungen kommen. Andere Länder sind unterrepräsentiert, zum Beispiel, weil die Informationen zu wenig Leute erreichen oder die Bands dort zu wenig Support bekommen. Da müssen wir versuchen, ein besseres System zu finden.
von Seckendorff: Die Musiker bekommen statt einer Gage „nur“ ein hochprofessionelles Video, das über die Website viel Beachtung findet.
Bühler: Die jazzahead! wird leider auch in Zukunft sicher keinen Topf auftun, aus dem Gagen bezahlt werden können. Sogar für die Kosten für Anreise und Übernachtung müssen die Musiker sich im Herkunftsland Unterstützung suchen. Es kommt natürlich vor, dass dies nicht gelingt. Auch hier werden wir uns Gedanken über faire Chancen machen müssen.
von Seckendorff: Wenn manche Bands notfalls auf eigene Kosten anreisen, dann doch vor allem in der Hoffnung, dass sie als Folge ihres Showcase-Auftritts gebucht werden?
Bühler: Vor allem darum geht es ihnen. Und das passiert auch, manchmal sogar vom Fleck weg. Außerdem haben sie während, aber auch nach der jazzahead! bessere Chancen, sich bei Veranstaltern und Pressevertretern ins Gespräch zu bringen. Es gibt auch Bands, die sind auf der Suche nach einem Label oder einer Agentur, einem Booker, der für sie Auftritte besorgt. Mir haben Musiker immer wieder erzählt, wie wichtig für sie das Gemeinschaftsgefühl war und ist. Man kommt unter sehr viele Leute, die ähnlich ticken wie man selbst. Das kann natürlich auch dazu führen, dass man sich eventuell sagt: Ich bin noch nicht so weit. Was sollte passieren, damit man sich hier für mich interessiert?
von Seckendorff: Aber man muss nicht schon einen Vertrag bei ACT oder ECM in der Tasche haben, um sich integriert zu fühlen?
Bühler: Häufig geraten in Bremen Leute in Gespräche und merken überhaupt erst nach einer halben Stunde, mit wem sie es zu tun haben. Die jazzahead! lebt wesentlich davon, dass hier so viele kleine Labels, Veranstalter usw. unterwegs sind. Wir werden weiterhin sehr darauf achten, dass sie nahe bei den Wurzeln bleibt und nicht vom Geld der Großen im Business bestimmt wird.
Beitragsbild: Der Pianist Kamil Piotrowicz auf der jazzahead! 2018. Foto: Susanne van Loon