„Lass uns diese Räume pflegen!“ appellierte Festivalleiter Bernd Zimmermann an sämtliche Anwesenden im stadt.bau.raum zum Auftakt des New Colours Festivals. Sich von Vielfalt anstecken zu lassen lautete die Einladung ans Publikum, zu dem auch viele internationale Medienvertreter gehörten. Nicht alles konnte so stattfinden, wie es geplant war. Das lag vor allem am Wetter. Dafür überforderte dieses Festival auch nicht mit einem zu dichten Überangebot, sondern gab Raum zum Durchatmen und zum „Sich-einlassen“. Das hat Stefan Pieper getan und berichtet für uns aktuell vom jüngsten deutschen Jazzevent.
Das kam schon dem Auftaktkonzert im stadt.bau.raum zu gute. Mit der österreichisch-tschechischen Band „Purple is the Colour“ eroberte ein junges Quartett aus der Gegenwart des europäischen Jazz (besser: aus der aktuellen europäischen Jazz-Szene) ihr Publikum, welches sich von der organischen Spielfreude dieser Band restlos mitreißen ließ. Der enthusiastisch gefeierte Auftritt verkörperte die typischen Qualitäten des Jazz, wie er seit 10 Jahren in Gelsenkirchen durch die Reihe Fine Art Jazz gepflegt wird: Hier blenden nicht in erster Linie große Namen, dafür zählt das Entdeckungspotenzial umso mehr.
Vom Südtirol Jazzfestival Alto Adige nach Gelsenkirchen war der slowenische Cellist Kristijan Kranjcan eingeladen worden. Mit ihm begab sich im wortwörtlichen Sinne das Publikum hoch hinaus auf den Nordsternturm, der das Ruhrgebiet überragt. Faszinierend war wieder einmal der Kontrast zwischen der Rauhheit des Ambientes und jener Intimität, die jedes Livekonzert zu etwas Größerem Macht. Kristijan Kranjcan schaffte es mühelos, mit Cello, Schlagzeug und Elektronik das Publikum in noch viel höher entwickelte Sphären zu katapultieren. Mit einem eigenwilligen Konzept, dass es so wohl kein zweites Mal gibt: Einst entführte der Slowene Johann Sebastian Bachs berühmte Cellosuiten durch ein zugespieltes Schlagzeug in eine neue Ausdrucksdimension. Auf dem Nordsternturm improvisiert er über lyrisch-fragile Texturen, die auch mal an Arvo Pärt erinnern, dann wieder Spurenelemente aus der eigenen slowenischen Musikkultur mit freien Klängen verbinden. Das Publikum fühlte sich von dieser radikalen Kunst der Erneuerung restlos in eine andere Sphäre versetzt.
Relevanz im Hier und Jetzt
Jazz aus jeder sprichwörtlichen Nische zu erheben und damit musikalische Relevanz in der Musik von heute erzeugen – dafür bot New Colours weitere Angebote: „Kid be Kid“ heißt eine junge Berliner Multiinstrumentalistin. Letzteres Etikett trifft allein auf den Gebrauch ihrer Stimme zu: Gesang und Perkussion im Beatboxing. Zudem agiert die Berlinerin als gewitzte Pianistin und Keyboarderin. Unter die Haut geht, wie ihre Gesangsstimme in den expressiven Melodien ihrer Songs einen eigenwilligen „Reibeiseneffekt“ entfaltet. Zugleich artikuliert sie mit raffinierter Beatboxing-Technik schleppende Dupstep-Beats, entlockt nebenbei dem Synthesizer „deepe“ Harmonien – das ist beste sexy Clubmusik aus dem “Hier und Jetzt“. Im nächsten Moment aber verschlug ein funkelndes Jazzpiano-Solo auch den international angereisten Jazzexperten und Journalisten die Sprache. Mehr Relevanz herstellen geht wohl kaum.
Das Publikum ließ sich freudig auf diese Abenteuer ein und wurde dafür mit einer hochkarätigen Wohlfühldröhnung in Sachen feinstem Combojazz mit stylisher Blues- und Souldurchdringung belohnt. Dafür stand Jeff Cascaro als Sänger und ausdrucksstarker Trompeter mit seiner formidablen Combo bereit. Die Herkunft seiner Mitmusiker aus der WDR-Bigband spricht für sich, dass es nur höchstkarätig werden konnte. Marvin Gayes „Innercity Blues“ war nur eine der in feinem Licht erstrahlenden musikalischen Perlen dieses Abends. Auch er komplettierte einen metaphernreichen Soundtrack für eine Stadtlandschaft, die viel mehr Liebeserklärungen dieser Art braucht. „Ich liebe das Ruhrgebiet“ hatte der gebürtige Bochumer ja auch ausgerufen.
Die soziale Erfahrung zählt
Ein erfahrener Bergwanderer lässt sich so schnell nicht vom Wetter aus der Fassung bringen. Dennoch war es für Matthias Schriefl nebst seiner ad hoc zusammengestellten „Brassholes Marching Band“ sehr schade, dass der Samstag beim New Colours Festival in krassestem Sinne ins Wasser fiel. Geplant war, dass Schriefl mit seinen Mitstreitern lautstark das samstagvormittägliche Einkaufspublikum in der Fußgängerzone jazzig aufmischte. Es lief dann auf ein Konzert unterm Vordach des Stadtmuseums hinaus, was sich in der kleinen, aus Musikern und Zuschauern bestehenden Gruppe auch wie eine „sozialen Erfahrung“ anfühlte, die es laut Bernd Zimmermann so dringend braucht. Es gibt nicht nur stillgelegte Kohlenhalden und Problemviertel in einer typischen Ruhrgebietsstadt, sonderrn auch Bauernhöfe und grüne Landschaften. Das Jazzpublikum rückte unterm Zeltdach beim Solawi-Lindenhof zusammen, auf dem nachhaltig und kollektiv gewirtschaftet wird. Diese weitere soziale Erfahrung erfuhr durch die Spielfreude von Roman Babiks „Urban Wedding Band“ eine behagliche emotionale Aufwärmung.
Der Sommer ist vorbei, der Regen schüttet, grau ist die Farbe am Himmel. So etwas produzierte am Festivalsamstag eine starke Melancholie. Dafür erwies sich wiederum die Klangpoesie des Pianisten und Keyboarders Arnold Kasar als perfekter Katalysator. Wie perlende Tropfen breiteten sich die Töne in minimal reduzierten Mollschleifen auf. Zugleich malte der Synthesizer viele zarte und manchmal auch grell aufblitzende Nuancen dazu. Aber Kasar, der sich extrem gründlich mit elektronischer Musik auseinandergesetzt hat, drehte gekonnt die Rollenverteilung um. Meist wurden die Modulationen und Flächen des Synthesizers zur Primärquelle für seine lyrischen Klavierimprovisationen.
Hommage an den verstorbenen Bruder
Und dann krönte ein großartiger Auftritt, hinter dem tatsächlich auch ein „großer Name“ steht, das erste New Colours Festival: „Ich widme dieses Konzert meinem gerade verstorbenen Bruder Rolf“, hatte Joachim Kühn (Titelfoto) seinen Auftritt anmoderiert. Was sich dann im Schloss Horst entfaltete, war kolossal, mächtig, ergreifend, grenzenlos. Man hat das Gefühl, dass Kühn nicht einfach mit seinen Händen die unendliche Menge an Tönen in Schwingung versetzte, sondern in etwas eintauchte und etwas geschehen ließ, was größer gewesen ist, was einer tieferen Logik und Urgewalt entsprochen hat. Und er kostete jede Klangnuance des Steinway dermaßen aus, dass man sich mittendrin in diesem Flügel, in diesem Kosmos fühlte. In absoluter Bestform spielte er weite, lange und freie Improvisationen. Vieles speiste sich aus der europäischen Kunstmusik: Orgiastische Klangmassen, die an Liszt erinnerten, funkelnde Impressionen und immer kluge Vernetzungen im Geist der Bachschen Polyphonie. Kühn machte alles – und an diesem Abend ganz besonders intensiv! – zur tief persönlichen Angelegenheit. Irgendwann reagierte er mit einem schneidend peitschenden, hohen Dissonanzschlag auf das Klirren einer umgefallenen Flasche. Alles gipfelt in einer flammenden Improvisation über Jim Morrison`s Hymne „The End“. Geschmäcklerisch irgendwelche Rocknummer „verjazzen“, das wird hier generös anderen überlassen. Dies hier ist tief und echt, macht sprachlos. Die weiche lyrische Jazzballade zum Schluss, brauchte es zum Runterkommen danach wirklich.
Der Sonntagmorgen bot mit dem Pianisten Angelo Comisso eine andere, pianistische Sensation. Ein weiteres junges Trio aus der aktuellen Szene, diesmal aus NRW war das Moritz Götzen Trio. Das letzte Wort beim New Colours Festival hatte dann nochmal eine echte „Supergroup“ im Jazz. Als solche kann und darf man das Trio Rymden guten Gewissens bezeichnen. Für Esbjörn Svensson, der durch einen tragischen Tauchunfall im Jahr 2008 verstarb, ist der Norweger Bugge Wesseltoft eingesprungen. Der neue gemeinsame Nenner erneuert sich ständig als musikalische Zukunftsvision zwischen Rock und Jazz – diesmal im atmosphärischen Rahmen der Gelsenkirchener Heilig-Kreuz-Kirche.
Überzeugungskraft
Sucht man ein zusammenfassendes Attribut für dieses neue Festival, muss vor allem von Überzeugungskraft die Rede sein. Das wiederum mag dem Fernseh-Comedian Bastian Bielendorfer entgangen sein, dessen Kalauern ein Massenpublikum in großen Arenen und im Fernsehen regelmäßig zu Füßen liegt. Dieser hatte unlängst ein reichlich undifferenziertes „Bashing“ seiner Heimatstadt Gelsenkirchen vom Stapel gelassen. Vielleicht sollte sich der gut im Geschäft etablierte 38-jährige Berufsspaßmacher einmal überlegen, welchen Schaden er durch seine mediale Reichweite mit solchen Plattitüden anrichtet, während Kulturschaffende wie Bernd Zimmermann und Susanne Pohlen zusammen mit Akteuren in Stadtgesellschaft und Lokalpolitik mit einem neuen Festival wie „New Colours“ daran arbeiten, die Stadt aus erwachtem kulturellen Verständnis heraus „neu“ zu entwickeln.
Stefan Pieper