Abgespeckt – aber idyllisch wie eh und je: das Jazzfest in Wallanders Heimat
Traumhimmel im gelblichem Abendlicht, sanfte Wölkchen – und lauter Töne zum Schwelgen: Der südschwedische Ort Ystad, den Krimi-Fans durch die Filme um Kommissar Kurt Wallander kennen, bietet eine der schönsten Kulissen für ein Jazzfestival. Im hinreißenden dortigen Theater, einem 400-Plätze-Juwel von 1894, gab es diesmal gehäuft Konzerte mit besonders anrührenden Momenten – etwa mit der Sängerin Cyrille Aimée und dem Schlagzeuger Ronnie Gardiner. Sowie ein traumschönes Kammer(welt)musik-Gastspiel mit dem Quartett des Oud-Spielers und Komponisten Anouar Brahem. Jazz mit auffällig starkem Erlebniswert – in einem Jahr, in dem viele Zuhörer genau solche Momente offenbar noch mehr zu schätzen wissen als sonst.
Zum dreizehnten Mal fand das seit 2010 existierende Festival jetzt statt – nach zwei Pandemie-Jahren, in denen es nicht ausgefallen war, sondern seine Kontinuität mit begrenzten Zuschauerzahlen und Konzertstreaming fortgesetzt hatte. Jetzt herrschte wieder Normalbetrieb, die Spielorte waren voll (90 Prozent Auslastung), und die Besucher wie auch viele der sechzig ehrenamtlichen Helfer des Festivals strahlten mitunter, als seien sie auf einer Insel der Glückseligkeit gelandet. Solch eine Insel waren die vier Jazz-Tage in der ersten Augustwoche denn auch. Das Programm war gegenüber Vorpandemie-Jahren verschlankt, einen Tag kürzer als zuvor, und einige Spielorte fielen weg – unter anderem der schönste Open-air-Spielort der 19.000-Einwohner-Stadt -, aber an den verbliebenen endete jedes Konzert mit Standing Ovations.
Jazz ist was fürs Herz – vor allem in Zeiten, die an die Nieren gehen. Das könnte man als eine der Botschaften aus dem diesjährigen Programm herauslösen. Das zeichnete sich schon am zweiten Nachmittag des Festivals ab, beim Auftritt der Sängerin und Songschreiberin Cyrille Aimée. Sie wurde 1984 in Frankreich geboren, lebte lange in New York und zog schließlich nach New Orleans. Dem einst aus New Orleans einst nach Frankreich gegangenen Sopransaxophonisten Sidney Bechet huldigte sie gleich im ersten Stück, einer gesungenen Version von dessen Klassiker „Petite fleur“. Und dann schwebte und schnippte die kindlich-verschmitzt lächelnde Sängerin im bunten Sommerkleid durch ein Repertoire aus französisch-, spanisch- und englischsprachigen Songs. Die schillerten zwischen Chanson- und Balladenkunst und souveränem Swing. Eine so innige Version von Serge Gainsbourgs „La Javanaise“ wie ihre, solo zur Ukulele, habe ich wohl noch nie gehört; Irving Berlins „How deep is the ocean“ bringen sie und ihre beiden Begleiter an Kontrabass und Klavier rhythmisch und mit Scat-Solo zum Swingen; und bei Stevie Wonders „Lately“ könnte man komplett dahinschmelzen. Ihre eigenen Stücke, zum Beispiel über einen Hund, den sie einst hüten sollte, der aber dann auf sie aufpasste, sind durchzogen von augenzwinkerndem Humor. Ganz wenige Sängerinnen können Texte so plastisch zum Leben erwecken wie Cyrille Aimée; ganz wenige klingen in so unterschiedlichen Stücken so natürlich. Ihre leicht angeraute, eher nach Folk und Chanson klingende Stimme setzt sie wie beiläufig in hoher Präzision ein – und mit der Edith-Piaf-Hommage „La vie en rose“ als Zugabe verhebt sie sich nicht.
Skandinavische Heimspiele
Vielfarbig und international ist das Programm in Ystad (diesmal allerdings mit einem leichten Defizit durch das Fehlen kantig-experimenteller Sounds), doch es gibt immer wieder auch skandinavische Heimspiele. Zwei starke Auftritte hatte dabei der Pianist Jan Lundgren, der in Ystad lebt und der künstlerische Leiter des Festivals ist. Einer davon war ein Tribut an Oscar Peterson und Duke Ellington in Quartett-Besetzung, unter anderem mit Gitarrist Ulf Wakenius, der einst selbst mit Oscar Peterson spielte, an der E-Gitarre. Die Doppel-Hommage mündete nach eher ruhigem Beginn in Petersons rasanter Glanznummer „Cakewalk“ mit einem bejubelten Schlagabtausch zwischen Klavier und Gitarre. Im anderen Konzert des künstlerischen Leiters Jan Lundgren saß der 90-jährige Ronnie Gardiner am Schlagzeug: ein afroamerikanischer Musiker, der seit langem in Schweden lebt und eine musikalische Methode zum Gehirntraining etwa für Schlaganfall- und Parkinson-Patienten entwickelt hat (Ronnie-Gardiner-Methode). Das Publikum sang für ihn „Happy Birthday“, nachträglich zum runden Geburtstag, den er am 25. Juli feierte. Bei Ellingtons „Caravan“, seiner Glanznummer, spielte Gardiner ein Schlagzeug-Solo zuerst mit bloßen Händen, dann mit Besen und dann mit normalen Sticks – und demonstrierte eine offenbar nicht nachlassende Kondition. Als ihm ein riesiger Blumenstrauß überreicht und er vom Festival für sein Lebenswerk geehrt wurde, fasste er sich ans Herz und sagte: „Long live Ystad“.
Das musikalisch reifste Konzert des Festivals stammte vom Quartett des tunesischen Oud-Spielers Anouar Brahem – mit Björn Meyer am sechssaitigen E-Bass, Klaus Gesing an der Bassklarinette und am Sopransaxophon und Khaled Yassine an der orientalischen Trommel Darbuka. Wirrungen bei den Flügen Richtung Schweden hatte den aus vier unterschiedlichen Orten in drei Ländern angereisten Musikern die Zusammenkunft erschwert – musikalisch aber atmeten sie so organisch gemeinsam, wie man es selten von einem Ensemble erlebt. Im Halbkreis auf Stühlen weit hinten auf der Bühne sitzend, spielten die Musiker ein Konzert ohne jeden Anflug von Show. Wie faszinierende Traumbilder und Erinnerungs-Sequenzen zogen Brahems leise, punktgenaue und versteckt komplexe Stücke vorüber – und fesselten das Publikum mit zarten Seidenfäden.
Rasende „Yellowjackets“ und Slow Music mit Grégoire Maret
Einen sechssaitigen E-Bass (gespielt von Dane Alderson) und eine traumwandlerische Präzision, aber in musikalisch völlig anderer Ausrichtung, gab es auch beim bejubelten Festival-Abschlusskonzert der amerikanischen Fusion-Band „Yellowjackets“ um Tenorsaxophonist Bob Mintzer. Funky, zündend, mit knackigem Drive und raffiniert eingängigen Themen, fegte die Band jeden Anflug von Abschieds-Traurigkeit aus dem Saal.
Am ganz anderen Ende der Geschwindigkeits-Skala hatte sich tags zuvor am selben Ort das Trio des Mundharmonika-Spielers Grégoire Maret, des Pianisten Romain Collin und des Gitarristen Marvin Sewell bewegt. Mit dem Programm „Americana“, stark geprägt von Stücken des somit im Geiste mit anwesenden Gitarristen Bill Frisell, feierten die Drei mit lyrisch-folkigen Stücken ganz entschieden die Langsamkeit. Nach etwa zwei Dritteln des Konzerts, das sich fast durchweg in sehr getragenen Tempi bewegt, sagte einer der Musiker: „Ich hoffe, Sie mögen langsame Songs.“ Die Antwort am Ende war stehender Applaus – für ein besonders konsequentes und voller spannender Feinstrukturen steckendes Programm. Mut zum musikalischen Slow Food!
Für Entdecker
Viel zum Schwelgen, wenig zum Entdecken? Das nun nicht; der südafrikanische Pianist Nduduzo Makhathini, 2021 auch beim Jazzfest Berlin gefeiert, mit bluesgetränktem Sound, kraftvoll hymnischem Duktus und der Gabe eines Geschichtenerzählers in den Bühnenansagen, war in einem inspiriert-lebendigen Konzert im gemeinsamen Quartett mit dem hervorragenden schwedischen Tenorsaxophonisten Karl-Martin Almqvist zu hören: Sound für die Seele mit Musikern, die Melodien und Improvisationen mit spiritueller Kraft aufzuladen verstehen.
An einem kleineren Spielort konnte man skandinavische Nachwuchstalente erleben, wie etwa die Gitarristin Karin Pilhage, die ein auffallend starkes Gespür für melodische Themen hat. Die kleine Reihe mit jungen Musikerinnen und Musikern war ein erfrischender Impuls für das Festival, den Nachwuchs-Jazz und das Publikum.
Und dann gab es schließlich eine ungewöhnliche Straßenmusik-Aktion mit der in der Schweiz lebenden deutschen Saxophonistin Nicole Johänntgen, die Ystad zu ihrem Lieblingsfestival erklärt hat. Sie zog mit dem Altsaxophon über Plätze und durch Straßen in der Altstadt – einmal auch mit einem 12-jährigen Begleiter, ebenfalls am Altsax, Theo Lantz, dem Enkel des Festival-Gründers Thomas Lantz (Titelfoto). Mit dem „C-Jam Blues“ und viel Musizierlaune warb sie für die ansteckende Kraft des Jazz. Und die ist sowieso in Ystad besonders ausgeprägt: eine angenehme Art von Infektion.
Text und Fotos: Roland Spiegel