„Der Berg verlangt einen großen Energieeinsatz, aber er gibt umso mehr Energie zurück“ – der Allgäuer Multiinstrumentalist Matthias Schriefl weiß, wovon er redet. Beim Südtirol Jazzfestival Alto Adige zirkulieren vergleichbare Energien, wenn es um aktuelle musikalische Gegenwart in den Ländern Europas geht. Klaus Widmann, der langjährige künstlerische Leiter des Festivals gibt den Staffelstab nun weiter an Max von Preetz, Roberto Tubaro und Stefan Festini Cucco, die sich jetzt darauf freuen, das Festival in die Zukunft zu tragen.
„Die drei sind echte Bergmenschen“ bewertet Matthias Schriefl das sichere Gespür der drei für die richtige Route. Sie sind sowieso schon seit vielen Jahren in die Organisation involviert. Genug Gelegenheit „zu üben“, wie es Klaus Widmann in seiner virtuellen Begrüßungsansprache formulierte, hatten sie bei der 40. Ausgabe allemal, allein, weil Widmann die ersten Festivaltage corona-bedingt nicht zugegen sein konnte, später dann aber kam.
Matthias Schriefl, der schon seit 15 Jahren beim Festival präsent ist, war diesmal den Bergen besonders nah, als er sich im Duo mit Johannes Bär drei Tage lang auf Hüttenwanderung begab. Sich vom Bergsommer in seiner ganzen Pracht verzaubern lassen und dabei offener für neue künstlerische Erfahrungen werden – in dieser Hinsicht besteht Gleichklang zwischen Musizierenden und Publikum. Schriefls drei Hüttenkonzerte dehnten sich zeitlich zum Teil über mehrere Stunden aus. „Abgeholt“ wurde dadurch viel touristisches Laufpublikum, das eben sonst nicht von sich behaupten würden „Jazz-Fan“ zu sein. Aber genau diese Neudefinierung des Horizonts ist ja auch das Anliegen.
Von Nachhaltigkeit ist die Rede
Nachhaltigkeit ist ein viel strapazierter Begriff. Das Südtirol-Festival verkörpert dieses Prinzip, ohne Aufhebens darum zu machen. Allein die Bündelung von Konzerten und Musikern über zehn Tage garantiert, dass sich Anreisewege bestmöglich „rechnen“. Die künstlerische Nachhaltigkeit gehört sowieso zur DNA dieses Festivals, seit Klaus Widmann das Gesamtkonzept in seine heute noch gültige, nach wie vor zeitgemäße Form gebracht hat. Die 40. Festivalausgabe zog jetzt ein Fazit sämtlicher bisheriger Länderschwerpunkte.
Wer zum Alto Adive Festival eingeladen wird, ist vielfältig involviert und auch künstlerisch stark gefordert – sowohl mit aktuellen eigenen Projekten, aber auch in kurzfristig anberaumten adhoc-Begegnungen. Klaus Widmann beweist ein fabelhaftes Gespür, Musiker, die künstlerisch noch nichts miteinander hatten, ins kalte Wasser zu stoßen. „Man spielt mit Leuten, mit denen man sonst nie spielen würde“ beschreibt Matthias Schriefl das enstehende Abenteuer. Auch der britische Saxofonist und Rapper Soweto Kinch, eine der präsentesten Figuren auf diesem Festival, empfindet die daraus resultierende kreative Spannung als sehr anregend: „Es gibt hier einen Widerspruch. Man soll in zwei Tagen komplett neue Musik erarbeiten. Das ist erstmal ein Angriff auf jeden Perfektionsanspruch. Aber die andere Seite davon ist eine riesige Spontaneität, die unglaublich viele Ideen freisetzt“. Zahlreiche Bandgründungen waren die Folge solcher Begegnungen. Auch dem Schweizer Schlagzeuger Lucas Niggli würde ohne „Südtirol“ einiges in der künstlerischen Biografie fehlen – man denke nur an dessen umtriebiges Trio mit dem Sänger Andreas Scherer und dem Gitarristen Kalle Kalima.
Jazz als offener „way of life“ geht nur außerhalb der Komfortzone
Jazz als künstlerisch offener „way of life“ findet eben erst statt, wenn sich Musikerinnen und Musiker, aber auch ihr Publikum aus der Komfortzone heraus wagen. In einer zusammengewürfelten Großformation nach minimaler Vorbereitung alles zu geben, hat für Lucas Niggli viel mit der Bezwingung von Bergen zu tun: „Wenn wir alle improvisieren geht es oft sehr schnell in ganz andere Richtungen geplant. Damit verhält es sich so wie in einer Seilschaft. Alle sind in derselben Sache drin und wechseln sich zwischendurch in der Führung ab. So etwas braucht Können und Erfahrung.“
Mit wechselnden Länderschwerpunkten hat Klaus Widmann in den letzten Jahren systematisch die reiche europäische Jazzszene durchgearbeitet. Daraus ist so viel Bleibendes entstanden, was eben diese 40. Festivalausgabe eindrucksvoll demonstriert hat. Beispielhaft sei der Auftritt des Euregio-Kollektivs erwähnt, einer großen fest zusammen arbeitenden Besetzung, hier natürlich unter Einbeziehung vieler weiterer aktueller Teilnehmender des Festivals. 2017 hatte das Südtirol Jazzfestival die EUREGIO-Jazzwerkstatt gegründet, um jungen Musikerinnen und Musikern aus Tirol, Südtirol und dem Trentino die Gelegenheit zu geben, mit internationalen Gästen zu konzertieren oder neue Projekte zu entwickeln. Und genau so etwas führt beim Alto Adige Festival immer wieder hinauf auf beeindruckende Gipfel über alle Niederungen von gehypter Oberflächlichkeit.
Finale vorm Langkofel
Am letzten Festivaltag nahm wieder eine Band vor der imposanten Kulisse der Langkofelgruppe-Aufstellung, was so manchen an die spektakuläre Inszenierung im Jahr 2014 erinnert haben mag. Wie damals diverse Artisten, inklusive Freeclimber und unerschrockene Musiker direkt aus hoher Felswand heraus künstlerisch agierten, das hat Geschichte geschrieben. Zwar etwas weniger spektakulär, aber musikalisch nicht minder beseelt, bescherten Matthias Schriefl, der Isländer Sigurdur Rögnvaldsson, der Fine Pauli Lüttinen, der Schweizer David Meier, der Brite Soweto Kinch und die Sängerin Anni Elif dem 40., zum letzten Mal von Klaus Widmann kuratierten Festival ein symbolkräftiges Finale.
Zeitgleich kreisen Hubschrauber über der nur wenige Kilometer entfernten Marmolata, dem höchsten Berg in den Dolomiten. Durch einen Gletscherabbruch sind Bergsteiger ums Leben gekommen. Berge sind niemals nur Kulisse, sondern immer auch ernste Herausforderung und – bei allem Faszinosum – ein verwundbarer werdendes Ökosystem.
Text: Stefan Pieper