Nicole Johänntgen solo 2: „Ich kann das Wort Zeit neu interpretieren“

(Von Stefan Pieper) Eng getaktete Zeitmaße sind überwunden auf der zweiten Solo-CD der Saxophonistin Nicole Johänntgen. Hier sind – wortwörtlich genommen – höhere Dimensionen im Spiel. Aus einzelnen Tönen werden Intervalle, die sich zu Motiven formen. Immer neu und immer anders gefärbt. Vielleicht so, wie ein Naturszenario am Morgen allmählich erwacht? Das hektische Zeiterleben bleibt irgendwo unten im Tal zurück, wenn die Musik weiter auf diesem Weg nach oben trägt.

Die in Zürich lebende Saxophonistin wählte für ihre zweite Soloaufnahme die Capella di San Gottardo – in 2100m Höhe gelegen auf dem Scheitelpunkt der berühmten Alpenpassstraße – mit einer nachhall-gesättigten Akustik, die manchmal fast selbst zu einem Musikinstrument wird. Ist der Mensch nicht ganz klein angesichts der Größe einer solchen Berglandschaft? Oder ist er doch ganz im Mittelpunkt? Das improvisierte Spiel ganz mit sich allein wurde zur Meditation über solche Seinsfragen.

Freiheit und Logik

Erst nach vier Stücken formen die Töne und Motive dieses Soloalbums zum ersten Mal eine zusammenhängende Melodie, was wie die Erfüllung eines Planes wirkt, in dem trotz aller assoziativen Freiheit viel Logik im Spiel ist. Aber Nicole Johänntgen ist eine viel zu universell erfahrene Musikerin, als dass sich alles im meditativen Aspekt erschöpfen würde. Auch wenn sich die Fantasie immer weiter verästelt, so bleibt hier doch der Ruhepuls in jedem Moment gewahrt.

Nicole Johänntgen hatte Dave Liebman als Mentor, betreibt gleich mehrere feste Bands und ist regelmäßig mit verschiedenen Projekten auf Live-Tournee. Ein noch junges Pflänzchen in diesem Spektrum ist ihr Soloprojekt, das mit einem ersten Release im Jahr 2019 begann und sich in regelmäßigen, je nach Moment und Spielstätte immer wieder anders gefärbten Liveauftritten beständig erneuert. Ihre dabei konsequent betriebene Abkehr vom sportlichen Wettstreit der vielen, manchmal allzu vielen Töne im Jazz, wirkt wie ein – durchaus mal überfälliger – Paradigmenwechsel.

Wendepunkt

Ihr Soloprojekt markiert einen Wendepunkt, auch wenn sie dieses Vorhaben schon lange verwirklichen wollte: „Diese Seite von mir war immer schon da. Aber es braucht manchmal Zeit, bis man einen Platz für so ein Projekt findet. Das meine ich nicht zeitlich, sondern vor allem mental. Es musste der richtige Zeitpunkt da sein, um das einfach mal raus zu lassen. Und ja, mich hat überrascht, dass dies einfach so geht.“

 

Nicole Johänntgen

Das aktuelle Volume 2 entstand an einem lichtdurchfluteten Vormittag, was sich in den Klangfarben der zehn Stücke, welche sich Beispiel „Frühlingserwachen“, „Innehalten“ oder „Bergluft“ nennen, ohne weiteres ausdrückt. „Die Musik hat seine melancholische Seite aber man hört auch den Gotthard-Aspekt. Da ist das ehrfürchtige drin. Diese Bergwelt. Wenn man die sieht, stellt sich heraus, man ist als Mensch doch so winzig klein. Aber andererseits auch groß. Die Musik soll also nichts niederschmetterndes haben, sondern eine Kraft verkörpern“ beschreibt Nicole Johänntgen ihr eigenes künstlerisches Anliegen.

Frei sein

Alleine sein, heißt für sie vor allem frei sein. Auch das macht für sie den Aspekt von persönlicher Erkundung aus: „Das Solospiel ist überhaupt ein einziger Zauber. Man geht da richtig tief rein, man kann das auch zulassen. Ich kann das Wort Zeit komplett neu interpretieren. Ich kann alles immer neu formen. Ich kann so viel Zeit wie ich will für einen Ton verwenden. So etwas kann ich in einer Band nur bedingt. Ich habe für mich eine neue musikalische Sprache daraus entwickelt.“

Zur Freiheit der Landschaft passt die Ausweitung des klanglichen Rahmens: Im letzten Teil tauscht sie das von meist favorisierte Altsax gegen das Baritonsax ein. Am Ziel des imaginären Weges greift sie auf das ursprünglichste musikalische Ausdrucksmittel zurück. Fürs letzte Stück legt Nicole Johänntgen ihr Instrument beiseite und singt den Epilog zu dieser imaginären Erzählung.

Nicole Johänntgen: Solo II, Selmabird Records

https://www.youtube.com/watch?v=WqUOlyreGiY

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