Von Dietrich Schlegel. Elias Canetti beschrieb in seinem philosophischen Hauptwerk „Masse und Macht“ (1960) den Hang der Deutschen zur Mystifizierung des Waldes mit den Worten: „In keinem modernen Lande der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland. Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude. Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch gern auf und fühlt sich eins mit den Bäumen… Man soll die Wirkung dieser frühen Waldromantik auf den Deutschen nicht unterschätzen. In hundert Liedern und Gedichten nahm er sie auf…“
Refugium Wald
Konfrontiert mit diesen Sätzen gerät Heiner Schmitz, Jazzmusiker und Komponist, Schöpfer seines – nach der „Odyssee“ und „Sinns & Blessings“ – neuen großorchestralen Werkes „Tales From The Wooden Kingdom“, ins Grübeln, sieht sich in gewisser Weise bestätigt und versucht zu beschreiben, was Wald für ihn bedeutet: „Wald ist für mich in erster Linie ein Refugium, in dem man zu sich kommen kann, seine Gedanken schweifen lässt, den urbanen, sozusagen unbewaldeten Alltag abstreifen und durchatmen kann…“
Die Frage, ob er ein versteckter Romantiker sei, die andere Seite des heißen Saxophonisten der Hip Hop Jazzband „Jazzkantine“, bejaht er ohne Umschweife: „Absolut! Mal kurz einfach weg sein, wegschweben, unsere medial so eng vernetzte Welt des ständig Online-seins verlassen – das tut mir gut. Und das fand ich in den vergangenen zwei Corona-Jahren beim Joggen, beim Spazieren oder Wandern mit der Familie in den Ville-Wäldern, die meine südwestlich von Köln gelegene Heimatstadt Erftstadt umgeben. Und durchaus im Sinne Canettis flossen die Eindrücke von diesen Waldgängen, der Zauber von Licht und Schatten, die Ehrfurcht vor den Baumriesen zu Hause am Klavier in Kompositionen, die letztlich zu den ‚Tales‘ führten.“
Poetische Texte – mit Veronika Morscher
Diese Tales, diese Geschichten sind gekleidet in poetische Texte, in englischer Sprache, fünf verfasst von Veronika Morscher, der Vocalistin des Projekts, und zwei von Heiner Schmitz selbst. Mit ihnen wird bewusst kein missionarischer, moralisierender Zeigefinger erhoben, sondern durch sie mag, so die Hoffnung, beim Auditorium eine stärkere Sensibilität für das Thema Wald und überhaupt eine höhere Wertschätzung dieses Lebensraumes erweckt werden. Die Texte, die als Gedichte durchaus auch für sich selbst stehen könnten, sind im sorgfältig gestalteten Booklet abgedruckt.
Für die Realisierung dieses ambitionierten Projekts suchte sich Heiner Schmitz in bewährter Partnerschaft das wieder großartig aufspielende Cologne Contemporary Jazz Orchestra (CCJO) aus, mit dem er seine „Odyssee“ produziert und sein Programm zur Verleihung des WDR-Preises Komposition (2019) aufgeführt hatte. Kongenial in das gesamte musikalische Geschehen fügt sich die österreichische, in Köln lebende Vocalistin Veronika Morscher ein: „Mit ihrer Leichtigkeit und Natürlichkeit, Empfindsamkeit und Aufgeschlossenheit für die Thematik des Projektes, nicht zuletzt ihrer Virtuosität und Musikalität war sie für mich die absolute Idealbesetzung.“
„Voice in the Band“
Im ersten Stück „Green Diving“ verstärkt Veronika Morscher als „Voice in the Band“ instrumental das orchestrale Gewirr von Stimmungen und Geräuschen, das den Spaziergänger oder Läufer beim Eintritt in die grüne Welt umfängt. Zugleich vermittelt das CCJO einen ersten Eindruck von der Kunst des Komponisten, mit dem klassischen Instrumentarium einer Big Band Klänge zu erzeugen, durch die er seine Naturerlebnisse eindrücklich und nachvollziehbar widerzuspiegeln vermag. Im sich übergangslos anschließenden „The Riddle“ interpretiert Veronika ihre eigenen Verse – ein Lobgesang auf „The empress of all things rising“ in Form eines den ewigen Wandel der Natur beschwörenden Rätsels.
April Morning“ und „November Dust“, für Schmitz zwei Seiten einer Medaille: atmosphärisch lautmalerische Impressionen während seiner Waldläufe zu konträren Jahreszeiten. Im „April“ kontrastiert ein flirrendes Solo des Gitarristen Johannes Behr zum im Wortsinn durchlaufenden Puls der hier wie stets hochsensiblen Rhythmusgruppe Jürgen Friedrich, p, Volker Heinze, b, Alex Parzhuber, dr. Im „November“ zelebriert Veronika ihre meditativen Lyrics und verzaubert Matthias Bergmann auf dem Flügelhorn.
„Anttrail“, etwa Ameisen im Geländelauf, ist ein wahres Meisterstück des Komponisten als Arrangeur seines eigenen Werkes, mit dem sich das CCJO die selten vergebene Auszeichnung „Solo by the whole band“ verdient. Schmitz „porträtiert“ einen Ameisenstaat, in dem aus dem scheinbaren chaotischen Gewimmel sich allmählich eine sinnvolle, artgerechte Ordnung formiert, anders ausgedrückt: Aus anfänglichem freejazzigem Chaos bildet sich nach und nach ein fetziger, doch geordneter homogener Big Band Sound heraus.
Naturphilosophie
Als naturphilosophischer Poet erweist sich Heiner Schmitz in seinem Gedicht „Beech Tree“, einer Art Zwiegespräch mit einer, nein: der Buche, für ihn der deutsche Baum in unseren Laub- und Mischwäldern. Weiß sie, dieser hundert Jahre ältere Baum, die Antwort auf die ewige Frage nach dem Verlauf und dem Sinn des Lebens? Veronika Morscher überzeugt als wissbegieriger, ungeduldig fragender Mensch, dem sie jedoch im Schlussvers, mit warmer Stimme die Seelenruhe der altersweisen Buche verkörpernd, keine wirkliche Antwort gibt – wie auch? Aber im Anblick und im Schatten einer mächtigen Buche stellen sich einem sensiblen Menschen solcherlei Fragen einfach von selbst. Im Wechsel mit Veronikas hoher, manchmal zu schweben scheinender Stimme erklingen – das ist hier das genaue Wort! – wunderbare Soli von Matthias Knoop, flh, Andreas Schickendanz, tb, und Marko Lackner, as. Und wieder hervorgehoben werden muss die Rhythmusgruppe, die sich in die nicht durchgehend rhythmische Struktur des Stückes sicher einfühlt und teils auch solistisch glänzt.
In „Underwood“ beeindruckt Kristina Brodersen mit einem langen unbegleiteten Intro auf dem Alt, behutsam beginnend, sich erst fast unmerklich, dann intensiver steigernd, um schließlich mit dem anwachsenden Tutti der Band zu verschmelzen, gleichsam den Weg aus dem Unterholz auf eine Lichtung findend.
A Shadow’s Life
Für sein Poem „A Shadow’s Life“ hat sich Heiner Schmitz von Peter Wohllebens Bestseller „Das geheime Leben der Bäume“ inspirieren lassen, „in dem er erzählt, wie Baumkinder versorgt und verpflegt werden, aber doch warten müssen, bis es Licht auch für sie gibt, bis die Eltern fallen und für sie Platz machen. Diesen Zwiespalt, diesen tragischen Kreislauf des Lebens in der Natur, habe ich versucht, auf die menschliche Ebene zu übertragen“. Das ist ihm eindringlich gelungen. Anders als in dem nachfolgenden „Breathing“, für das er Veronika nur eine grobe Form vorgab, auf die sie ihre Lyrics, so Heiner Schmitz bewundernd, „gezaubert“ hat, schrieb er erst die sechs streng gereimten Strophen für „Shadow’s Life“ und versuchte dann die passende Komposition zu schreiben, kein einfaches Stück Arbeit, wie er gesteht: „Daraus ist dann mein längstes auf eine CD gebanntes Stück geworden, das auch am meisten durchkomponiert ist, entstanden aber aus einer einzigen kompositorischen Keimzelle. Genau wie ein Baum“, wie er schmunzelnd hinzufügt. Veronika übernimmt sowohl die Rolle der Erzählerin als auch mitfühlend das Zwiegespräch zwischen dem Kind und der Mutter bzw. den Eltern. Ihre Performance wird von Soli des Pianisten Jürgen Friedrich und des Tenoristen Matthew Halpin umrahmt, wodurch die romantische, teils schon mythische Atmosphäre des mehr als elf Minuten langen Stücks noch verstärkt wird. Ein großer Wurf!
Die Lyrics der Veronika Morscher in „Breathing“ kommen einem Schrei nach Befreiung gleich, einer Befreiung von allem Altständigen, Überflüssigen, Verbrauchten, Verstaubten, allzu Vertrauten – „Out / Out / Out with the old, the comfort, the safety, destinations and … above all: ideals…“ , mündend in dem erleichterten Statement vom „Out“ in ein „In / Into / Inward / Inside / Take it in… / Know you are good. / You are complete. / You are free.“ Eine Meditation im Wald, durch den Wald hervorgerufen? Nicht leicht zu beantworten, aber durch den intensiven Vortrag als Sprechgesang lässt es einen nicht los. Nicht ganz verständlich, dass die letzte Zeile „You are free“, eigentlich doch die letzte Konsequenz dieses Denkprozesses der Befreiung, sowohl in dem Konzert, das der Verfasser besuchte, als auch auf der CD weggelassen wurde.
Zeitlose Weisheit
„Out Of The Woods“ ist als Gegenstück zu „Green Diving“ gedacht, zum „Hello“ ein „Goodbye“. Veronika fasst in einem Vierzeiler präzise zusammen, was der Wald seinen Besuchern beschert hat, seine zeitlose Weisheit, derer wir alle letztlich bedürften. Nach Christoph Möckels lyrisch beginnendem, dann rissig aufgerautem Solo auf dem Tenor brilliert Veronika mit einer langen Vocalise, gedoppelt durch Johannes Behrs Gitarre. Die Band steigert sich mit allem, was sie aufzubieten hat, bis zum abrupten, doch – wie heute üblich – nur scheinbarem Schluss. Als Zugabe in Konzerten und auf der CD folgt noch ein „Winter Poem“, ein wahrhaft romantischer Abgesang auf das verflossene Jahr und doch der Vorfreude auf den Winterwald, ausgedrückt in einem stimmungsvollen Gedicht von Veronika, die auch an der Komposition mitwirkte. Schöne Flötentöne über und neben der subtilen Bassklarinette von Marcus Bartelt. Alles zusammen endend in einem verhauchten „Winter is coming“.
Heiner Schmitz hat mit Veronika Morscher und dem Cologne Contemporary Jazz Orchestra ein Kunstwerk geschaffen, das nicht nur eine jazzmusikalische Hommage an den Wald schlechthin darstellt, sondern überdies einen originellen Beitrag zum Kapitel „Jazz und Lyrik“.
„Tales From The Wooden Kingdom“ wurde von der Initiative Musik eGmbH, den Klaus-Geske-Stiftungen und der Kunststiftung NRW gefördert, im September 2021 im Kammermusiksaal des Deutschlandfunks Köln aufgenommen und im April 2022 als CD bei KLAENG Records veröffentlicht.
Heiner Schmitz – Tales From The Wooden Kingdom
Klaeng Records 065 / LC 30645 / 016027172521 / Vertrieb: Klaeng Records / www.klaengrecords.de
Feat. Cologne Contemporary Jazz Ochestra / Veronika Morscher, Gesang