Angesichts des Zustandes der Welt und deren Verworrenheit, in der Menschen hilflos scheinend in das Betrachten ihres bereits Gestorbenseins versunken sind, sucht auch Musik nach dem Ausdruck der Trauer.
Der in Paris und Budapest lebende Gitarrist und Komponist Gábor Gadó gestaltet seit über dreißig Jahren mit seiner immer konzentrierter und spiritueller gewordenen Musik Zugänge zu philosophischen, moralischen und historischen Aspekten menschlichen Verlorenseins. Etwa zwanzig CDs mit Gadós Kompositionen und seinem Gitarrenspiel greifen gedanklich William Butler Yeats, Jakob Böhmes „Ungrund“, Tarkowskis „Stalker“, die Byzantinische Wende im historischen Christentum, Avicenna und Mirandola, Livingstone und Strindberg oder auch bedeutende Schriftsteller wie Bohumil Hrabal, Joseph Brodsky und László Krasznahorkai auf.
Wenn seine aktuelle CD „Whispering Quiet Secrets Into Hairy Ears“, die er im Duo mit diesmal dem Saxophonisten János Ávéd eingespielt hat, mit „Lacrimosa“ beginnt, einer Assoziation an die Sequenz aus Mozarts Requiem, der allerletzten Arbeit Mozarts, der über dem Komponieren des Werkes verstarb, darf das wohl als Hinweis auf das Gesamtthema dieser Gadó-CD verstanden werden: das Abschiednehmen, die Beweinung und das Rechenschaft ablegen als ein Sich-bewusst-Machen eigener historischer und spiritueller Wurzeln. Musik als klanggewordene Trauer. Und Musik als klanggewordene Hoffnung.
Gadó schließt diese CD mit einem Gebet ab. Nicht mit irgendeinem, sondern mit Franz Liszts „Pater Noster“ aus dem Klavierzyklus „Harmonies poétiques et religieuses“, einem Werk, das angeregt war von Texten des Dichters Alphonse de Lamartine. Herr, so betet diese Musik Gadós, erlöse uns von dem Übel.
Der spirituelle Zugang Gadós zu Musik ist im Kanon christlicher Bilder verankert. Markieren Anregungen aus Mozarts Requiem und aus Liszts „Harmonies …“ Anfang und Ende der Gadó-CD „Whispering Quiet Secrets Into Hairy Ears“, so stellt der Gitarrist und Komponist das Leiden Christi mit seiner Bearbeitung des lateinischen Kreuzhymnus „Vexilla Regis“, dem Beginn der Liszt’schen Kreuzweg-Kompostion „Via Crucis“, in die Mitte seiner CD.
Musikalisch greift Gadó auf verschiedene musikgeschichtliche Ausdrucksweisen zurück, manchmal gleichzeitig und kontrastreich, manchmal homogen abfolgend. Es klingen liturgische Modalmusik beziehungsweise Gregorianik auf; modernere Kompositionsprinzipien und Improvisationen aus dem Feld des Modern Jazz, so Modales, transportieren durchaus ein spirituelles Verständnis von Literarischem und Historischem, von lächelnd Ironischem und Moralphilosophischem.
Frappierend ist, dass über alle Differenziertheiten hinweg ein einmaliger, individueller Duo-Sound aus modifiziertem Gitarrenklang und weichen (nie aber verweichlichten) Saxophonlinien entsteht. Was die beiden Musiker hier mit ihren Instrumenten leisten, ist sowohl spieltechnisch als auch kreativ-phrasierungsmäßig und ideell überragend.
Während des Schreibens dieser CD-Besprechung, etwa zur Texthälfte, begann der Krieg in der Ukraine, was mir das Rezensieren drastisch schwerer machte. Würden die Kriegsparteien einen Atomkrieg provozieren? Die CD „Whispering Quiet Secrets Into Hairy Ears“ von Gábor Gadó und János Ávéd markiert, eigentlich ungeplant, den Ernst der Lage; sie filtert heraus, was gerade an heutiger Musik wichtig ist: die Klanggestaltung des Ausdrucks der Trauer und die Erinnerung an Hoffnung. Vielleicht sind dies die Geheimnisse, die dem CD-Titel zufolge eigeflüstert werden sollen …
Mathias Bäumel