Traumzitate fließen in Musik – die Schweizer Sängerin, Vokalkünstlerin und Stimmcoach Saadet Türköz

Zürich. Sie sieht sie „eigentlich nicht als typische Musikerin“. „Ich kenne keine Noten“, erklärt Saadet Türköz und will das auch nicht als Koketterie verstanden wissen. „Ich bin keine Volkssängerin, keine Jazzsängerin“, formuliert die 60-jährige Züricherin, die seit rund drei Jahrzehnten als Sängerin, Vokalkünstlerin und Improvisationsmusikerin tätig ist.

Seit Anfang der 1990er Jahre hat sie mit zahlreichen Musikerinnen und Künstlerinnen zusammengearbeitet, darunter Elliott Sharp, Nils Wogram, Hans Hassler, Fritz Hauser, Lionel Friedli, Julian Sartorius und Koch-Schütz-Studer aka Hans Koch, Martin Schütz und Fredy Studer, Paul Lovens, Bertl Mütter und andere. In den Bereichen Video, Theater, Film, Tanz und Literatur arbeitete sie unter anderem mit Pipilotti Rist, Sven Holm und Nikola Weisse. Aufzählungen, die sich scheinbar beliebig verlängern lassen und doch nur schlaglichtartig das vielfältige Schaffen Türköz‘ beleuchten. Das hat mit ihrer eigenständigen künstlerischen Persönlichkeit, aber auch den Genres zu tun, in welchen die Schweizerin aktiv ist. Es ermöglicht ihr mit südafrikanischen Musikern wie ZIM Ngqawana ebenso intensiv zu interagieren, wie mit der Wuppertaler Geigerin Gunda Gottschalk oder traditionellen kasachischen Musikern.

Im Bereich freier, improvisierter Musik kommt es häufig zur Zusammenarbeit von Künstlern,  die dann oft nur für ein Projekt oder wenige Auftritte bestehen. Neben dem New Yorker Multiinstrumentalisten Elliott Sharp verbindet Türköz eine längere Zusammenarbeit mit dem Cellisten Martin Schütz, eine andere mit dem deutschen Posaunisten Wogram, der seit fast zwei Jahrzehnten in der Schweiz lebt. Song Dreaming, welches heuer bei Leo Records erschienen ist, haben die beiden bereits 2006 aufgenommen. Türköz singt in den Sprachen ihrer Vorfahren, kasachisch und türkisch. Damit fügt sie sich wie in einem Klangfluss in Wograms Kompositionen ein und verbindet sich mit dem Klang der Posaune. Die wiederum wird selbst zur Stimme. Die Verbindung von Jazz und zeitgenössischer Musik mit traditionellen Formen prägt seit Langem das künstlerische Schaffen der Improvisationsmusikerin, ohne dass sie der Folklore ihrer Herkunft verhaftet bleibt.

Familienfoto, bei einer Hochzeit in Istanbul, Saadet Türköz (hinten rechts). Foto: KH Krauskopf

Türköz schöpft aus dem Reservoir ihrer wiederentdeckten kulturellen Wurzeln. Auch nutzt sie gelegentlich das Repertoire der vorwiegend mündlich überlieferten Lieder. Geboren 1961 in Istanbul, wuchs sie inmitten eines für Einwanderer und Flüchtlinge errichten Stadtteils auf. Ihre Großeltern, Nomaden aus Ostturkestan im Westen des heutigen Chinas, brachen unter dem Druck der Assimilationspolitik der Kommunisten ihre Zelte ab und machten sich auf einen 15 Jahre dauernden Weg. Schließlich landeten sie in Istanbul. Inmitten der Weltmetropole hatte ihr Leben dörflichen Charakter, da viele der Bewohner*innen ihre kulturellen Traditionen bewahren konnten. Türköz besuchte Volks- und Koranschule, war fasziniert von den sprachlich-vokalen Mustern und Rhythmen, obwohl sie kein Wort verstand. Schon damals, erzählt sie im Telefoninterview, „konnte ich kein Gedicht auswendig lernen“.

Nach der Schule nähte Türköz für den Laden, den ihre Eltern im berühmten großen Basar betrieben. Dabei begegnete sie erstmals Menschen aus dem Westen und lernte die in der Türkei populäre anglo-amerikanische  Popmusik kennen. Besonders angetan ist sie von Janis Joplin, Jimi Hendrix, Pink Floyd und Black Music. „Den Blues habe ich geliebt“, erzählt sie mit lebendiger Leidenschaft, „weil er auf eine einfache Weise unmittelbar die Gefühle zum Ausdruck bringt.“ Später faszinierten sie Yoko Ono, Meredith Monk, der englische Sänger Phil Minton, Kate Bush, die ägyptische Diva Umm Khaltum, Cathy Berberian und andere Vokalkünstler*innen.

Sie will andere Menschen kennenlernen und geht mit 20 Jahren in die Schweiz, wo sie sich anfänglich mit verschiedenen Jobs über Wasser hält. Aber es war „nicht mein Ziel mein Leben als Mädchen für alles im Altersheim zu verbringen“. Sie geht an eine Journalistenschule, übersetzt für Organisationen und singt ab und an bei Festen und Hochzeiten. Die Reaktionen darauf bestärken sie darin sich mehr und anders mit Musik zu befassen, als mit „einem klassisch akademischem Musikstudium“, womit sie Musik immer in Verbindung gebracht hat. Auf Empfehlung der Performerin und Sängerin Doro Schürch, die sie über einen Freundeskreis liberaler Freigeister kennengelernt hatte, besuchte sie ein Jahreskurs bei Peter K. Frei im WIM (Werkstatt für improvisierte Musik) in Zürich.

„Sehr aufregend“ erlebte sie ihr erstes Solokonzert im Ausland in einem Theater in Hamburg-Altona, für das sie auch Lieder aus ihrer Kindheit ausgesucht hatte. Sie musste sie frei improvisieren, da sie – wie einst in der Schule – die Texte „nicht auswendig gelernt hatte“. Parallel zur anlaufenden Karriere als Musikerin machte Türköz in den 90er Jahren eine Ausbildung zur Shiatsu-Therapeutin. Sie konnte „zunehmend auf mich selbst hören“ und gewann ein immer stärkeres Vertrauen zu den eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten des Stimmeinsatzes. Es folgten erste Aufnahmen, zunächst das traditionell orientierte „Amori Lausanne“, später Alben u.a. mit Joelle Leandre für Intakt Records und andere Labels wie Leo Records und Klanggalerie, die sich auf freie und improvisierte Musik spezialisiert haben. „Melancholische Metamorphosen“ erkannte die Badische Zeitung auf dem 2019 veröffentlichten „Kumuska“. Türköz hat es bereits Jahre zuvor mit dem New Yorker Multiinstrumentalisten und Soundmagier für elektronische, metallische und rauhe Klänge und komplexe Rhythmen Elliott Sharp in New York aufgenommen.

Urumchi, der Hauptstadt der Uiguren und Region ihrer Großeltern, hat sie ein ganzes Album gewidmet, das sie mit traditionellen Musikern in Almati (Kasachstan) und Bejing aufgenommen hat. Eine große Ruhe geht von der Musik aus und Türköz markante Stimme vermittelt eine innere Kraft, die einen in archaische Welten und Stimmungen eintauchen lässt. Diese unprätentiöse Ausstrahlung wohnt auch ihren Aufnahmen mit westlichen Musikern und improvisierenden Begegnungen inne, wo sie manchmal auch nur mit Vokalen und Geräuschen arbeitet. Da klingt, wie im bezeichnenden „We are strong“ (2021, Chinabot Label) mit dem schweizerischen Experimental-Gitarristen Beat Keller, sogar die Ahnung von Jodeln auf.

2013 verbrachte sie auf Einladung der Peter Kowald Gesellschaft einen Monat in Wuppertal an Kowalds ORT. Vor diesem Hintergrund hat der Kulturjournalist und Autor Heiner Bontrup ein lebendiges und anschauliches Porträt von Türköz verfasst. Daraus ist folgendes Zitat entnommen: „Aus welchen Regionen kommen Kraft und Stärke dieser Stimme? Man beobachte Saadet Türköz nur auf der Bühne, wie ernsthaft und hochkonzentriert sie sich in den Strom der Musik stellt, den Klängen der Mitmusiker lauscht, ihre Musik gleichsam durch sich hindurch strömen lässt, dabei auf sich selbst achtend, ihre Haltung und innere Stimmung suchend und findend, um dann selbst mit ihrer Stimme in den Fluss der Musik einzutauchen. ,Es ist eine Art Transformation’, sagt Saadet. ,So wie meine Vorfahren alle Poren öffnen mussten, um die Natur, aber auch ihre eigenen Stimmungen, ihr Glück, ihre Trauer, ihre Schmerzen, in sich eindringen zu lassen und diese Erfahrungen dann in Klänge, Töne, Musik zu verwandeln, so öffne ich mich für das, was die anderen Musiker tun’. So wird verständlich, wie die musikalischen Wurzeln der Heimat ihrer Großeltern, die aus Ostturkestan stammen, sie zum Jazz und zur Freien Improvisierten Musik führen konnten.

Die Kraft ihrer Stimme, ihre Wandelbarkeit, ihre Improvisationsfreudigkeit, die Fähigkeit zur sekundenschnellen Reaktion auf das musikalische Geschehen, sie wurzeln in einer tiefen inneren Haltung. Vor manchen Stücken stimmt sie sich ein in solch eine Haltung, einem Mantra ähnlich rezitiert sie Verse, Versatzstücke von Träumen, Einfällen, die sie notiert, wenn die Inspiration sie heimholt: ,Das Leben sei ein Fest, nach vorne blickend – nur einen Moment nachdenkend –  in Liebe und in Achtung.’ Ein Satz, der auch die Überschrift über ihrem Leben sein könnte.

Info: saadet.ch/ Musik von Saadet Türköz ist auf bandcamp.com und einschlägigen Plattformen zu finden.

Text: Michael Scheiner

Fotos: KH Krauskopf

Der tägliche
JazzZeitung.de-Newsletter!

Tragen Sie sich ein, um täglich per Mail über Neuigkeiten von JazzZeitung.de informiert zu sein.

DSGVO-Abfrage

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.