Eine Live-Performance des Radio.String.Quartet aus Wien setzte im Rahmen des Münsterland-Festivals in der Emsdettener Kulturfabrik Strotmann einen echten Rausch für die Sinne frei. Grenzenlos scheinen die Möglichkeiten, was alles auf gestrichenen und gezupten Saiten, aber auch mit Stimme und Elektronik geht, wenn man es nur auszukosten, zu zelebrieren vermag. Die Wiener können so etwas – und wie!
Dieses Streichquartett, das sich einst vom Jazzrock des Mahavishnu-Orchestra inspiriert fühlte, besteht eigentlich aus fünf Musiker-Personen: Denn Peter Otto Moritz, der sich selbst als Sound-Designer bezeichnet, hat als aktiver Gestalter an Laptops und Mischpults keine Sekunde lang Pause während des Konzerts. Bei ihm laufen – natürlich längst kabellos – die Fäden zusammen, also die Tonspuren sämtlicher Instrumente, aber auch der Effekt- und Loopgeräte, welche das virtuose Zusammenspiel auf der Bühne überhöhen, multiplizieren und im rauen Ambiente der Kulturfabrik Stroetmann dreidimensional ausbreiten. Schon ein Solokünstler hat durch solche Techniken ungeahnte Potenziale in den Händen – das ganze gleich viermal überwältigte umso mehr.
Musikalisches Konzept
Aber das ganze ist Effekt-Show, sondern Teil des musikalischen Konzepts. Vor allem aber: Bernie Mallinger (Violine, Gesang), Sophie Abraham (violoncello, vocals),Cynthia Liao (Viola, vocals) und Igmar Jenner (Violine) versinken restlos in ihrem Spiel und kommunizieren hellwach dabei. Das Publikum an diesem Abend durfte an etwas spektakulär Brandneuem teilhaben: So wie im ersten Teil des Konzertes wurde die Musik Johann Sebastians Bachs wohl noch nie auf die Reise zu neuen Ufern geschickt. Aus schillernden Klangflächen erheben sich die Sätze der g-Moll Violinsonate. Assoziativ und in loser Reihung, fast fragmentarisch bietet so etwas Raum für reiche instrumentale Fantasieentfaltung, für Schwebungen ohne Begrenzung. Vor allem die flächigen Tremoli und Texturen erzeugen Zustände von Ausschweifung, die das Publikum in eine Art mystische Zelebration hinein zieht. Drei von ihnen setzten auch ihre Stimmen als weitere Instrumente ein – bis sich schließlich wieder Bachs Tonsprache mit ihrer unerschütterlichen Prägnanz heraus schält.
Weitere Facetten
Nach der Pause legen die Wiener weitere Facetten ihres aktuellen Schaffens offen: Jetzt kommen andere lyrische, weiterhin stark atmosphärische Aspekte ins Spiel – so wie sie auch ihr letztes Album aus dem Jahr 2017 hervorbringt. Bugge Wesseltoft hat hier mitproduziert und stand bei den Arrangements mit Rat und Tat zu Seite. Aber die hohe Kunst liegt dann auch wieder in aufregenden Brückenschlängen: Auf die einstige Prägung durch das Mahavishnu Orchestra wird phasenweise angespielt durch die sich unvergleich hochschraubenden Intervallsprünge zu Anfang des Mahavisnu-Stückes „Hopes“, um sich dann schon wieder in andere, neue Umlaufbahnen fortzustehlen.
Durchaus anschlussfähig an aufgeklärte Popmusik-Idiome und latent mit dem modischen Attribut „Neoklassik“ kokettierend, setzt der getragene Song „Book of Love“ einen sinnlichen Gegenpol, um dann mit fast schon sakralen Klanglandschaften alle Zeitgeist-Schubladen hinter sich zu lassen. Das ausgedehnte Finale pflegt schließlich nochmal einen mächtigen, von zahllosen expressiven Streichergesten genährten und räumlich entgrenzten Wall of Sound, bei dem die Frage bleibt, ob Publikum oder Musiker auf der Bühne gerade stärker in Trancezuständen weilen. Eine viel leisere lyrische Zugabe widmeten die Wiener dann wieder einer Fusionjazzlegende, mit der sie die Heimatstadt teilen, dem großen im Jahr 2007 verstorbenen Joe Zawinul.
Spezieller Abend
„Auch für uns war es hier ein ganz spezieller Abend“ freute sich Bernie Mallinger im Nachhinein. So etwas kommt heraus, wenn das Münsterland-Festival, getragen vom Münsterland e.V. und kuratiert von Christine Sörries die Dinge so zusammen bringt, dass sie einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort perfekt miteinander funktionieren.
Text und Fotos: Stefan Pieper
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