Jan Garbarek, einer der einflussreichsten europäischen Musiker verfügt seit Ende der 1980er Jahre über eine feste Band, in der es um Gleichberechtigung aller Beteiligten geht. Wie sehr sich die Jan Garbarek Group als künstlerisches Zentrum des Norwegers definiert, bewies ein spektakuläres Konzert im Rahmen des diesjährigen Usedomer Musikfestivals. Eigentlich war Litauen der thematische Länderschwerpunkt beim großen Konzertmarathon an der Ostsee in diesem Jahr – das Gastspiel von Jan Garbarek, Trilok Gurtu, Rainer Brüninghaus und Yuri Daniel war eine Übernahme aus dem letzten Jahr, wo der norwegische Musiker pandemiebedingt nicht nach Deutschland reisen konnte.
Das Usedomer Festival ist zwischen September und Oktober ein Kosmos der kulturellen Vielschichtigkeit – und dies an vielen unkonventionellen Spielstätten, die sich in dieser Grenzregion zwischen Deutschland ud Polen sogar über zwei Länder verteilen. Vielschichtig genug sind auch die kulturellen Einflüsse in Garbareks Band, vor allem seit der Schlagzeuger Trilok Gurtu ein Gegengewicht zur stilprägenden Ästhetik des Norwegers Jan Garbarek liefert. Und ja – die Band zeigt sich auf Anhieb in Bestform – überzeugend genug, dass auch ein eher klassik-affines Publikum schon nach der ersten Nummer zu Beifallsstürmen abhebt. Am lebendigsten sollen aber die Publikumsreaktionen der zahlreich aus dem östlichen Nachbarland angereisten Besuchernnen und Besucher ausfallen. Jazz ist in Polen mittendrin im Kulturleben und keineswegs nur ein Nische, das spürt man auf diesem Festival, das seit Jahren grenzübergreifend stattfindet, ganz deutlich.
Einschüchternde Erhabenheit
Garbarek live in dieser Band zu hören, rückt so manches Stereotyp eindrücklich zurecht: Der sonst so unnahbare Meister auf Sopran- und Tenorsaxofon ist eben nicht nur ein unnahbarer Fixstern am Himmel, der in den 1970er Jahren dazu aufbrach, die Kategorie „Jazz“ hinter sich zu lassen und damit eine nachhaltige Emanzipition von jedem amerikanischen Kulturimperialismus vollzog. Garbarek live auf dem Usedomer Musikfestival inmitten seiner Band kommt seinem Publikum vor allem als gleichberechtigter, unaufgeregter Teamplayer nahe. Ganz weit ist der epische Rahmen gleich zu Beginn des Konzerts. Es überwältigen die Gefühlswogen einer Melodie, die irgendwo auch choralartig anmutet, aber auch immer Tore ins Rätselhafte aufstößt. Das ganze ist bei einer fast schon einschüchternden Erhabenheit in jedem Moment tief geerdet. Trilok Gurtu sorgt an seinem Riesen-Instrumentarium für perkussives Schwergewicht. Aber daraus erwächst viel mehr, da es in viel mehr gründet. Gurtus vielgestaltige, aus den mannigfaltigen Quellen der indischen Perkussionskunst genährte Rhetorik ist neben Garbareks charismatischem Spiel ein zweites, mächtiges Zentrum innerhalb der Band geworden. Natürlich hat Gurtu auch Tablas im Einsatz, die ja bekanntlich über fest definierte Tonhöhen verfügen, woraus verfeinerte Basslinien und melodische Prozesse erwachsen. Garbareks Spiel – und damit sämtliche melodischen Facetten umspannen alles, was wir von vielen unterschiedlichen Aufnahmen und Schaffenssphasen kennen. Schwelgerlich, ergreifend, sanglich – und trotz seiner Erhabenheit keineswegs abgehoben – breiten sich die Melodiebögen aus. Auf dem Tenor weiß er mindestens ebenso kraftvoll zu phrasieren und ist mit diesem Sound noch mehr in seiner Band tief „mittendrin“. Ohne Rainer Brüninghaus am Piano würde aber nichts so funktionieren, vor allem dessen harmonische Erfindungskraft stellt eine weitere tragende Säule dar. Und Yuri Daniel auf seinem funkigen fünfseitgen E-Bass! Was für eine Quelle nie versiegender, beflügelnder rasanter Vitalität. Der Abend nimmt seinen Lauf, zieht alle in ihren Bann: Zu Anfang sind des die reichhaltig verschachtelten, epischen Kompositionen, man kann hier fast schon von Songstrukturen sprechen. Später dominieren immer mehr die solistischen Entfaltungen, bei denen alle anderen, die gerade nichts zu tun haben, wie beim Auftritt einer großen Rockband die Bühne verlassen. Faszinierend ist ein Duett zwischen Jan Garbarek und Trilok Gurtu: Garbarek spielt betont akzentuiert auf einer Art Rohrflöte, Gurtu antwortet nicht nur perkussiv sondern auch melodisch. Gerade dieser Dialog ist aufschlussreich für jene Formel, welche der langjährigen Seelenverwandtschaft zwischen Jan Garbarek und Trilok Gurtu zugrunde liegt. Auf dieses besondere küsntlerische Nehmen und Geben in ausgewogener Symmetrie hatte Gurtu im kurzen Gespräch vor dem Konzert ausdrücklich hingewiesen.
Jazz-Entdeckungen auf Usedom
Das Usedomer Musikfestival geht noch bis zum 9. Oktober und bietet noch viele musikalische Entdeckungen vor allem Litauen – allein, weil der diesjährige Artist in Residence David Geringas hier sein Heimatland repräsentiert. In einer Kirche im kleinen Ort Wolgast musiziert er mit dem „New Ideals Chamber Orchestra“ Musik vom litaurischen Komponisten Gediminas Gelgotas. Ein Shootingstar aus der litauischen Jazzszene ist außerdem der Pianist Egidijus Buozis, der in einem Usedomer Strandhotel ein Solorecital gibt. Zum Abschlusskonzert am 9. Oktober musiziert David Geringas mit dem Elbphilharmonie-Orchester im Kraftwerk des Museum Penemünde.
Text und Fotos: Stefan Pieper
Infos: www.usedomer-musikfestival.de