Unter weitem Himmel: Das Duo Aliada bei einer Publikumswanderung im Rahmen des Musik- und Literaturfestivals Wege durch das Land
(Bielefeld) „Ein technisches Level, das alles musikalisch möglich macht“ und eine „einzigartige Krativität, welche die Zuschauer in ihren Bann zieht“ wurde dem Saxofonisten Michael Knot und dem Akkordeonspieler Bogdan Laketic attestiert, als sie den International Classic Music Award in Empfang nahmen. So etwas war auch gefragt, als das Duo Aliada beim Musik- und Literaturfestival „Wege durch das Land“ mit seinem Publikum auf Wanderschaft ging. „Der Wald ist die erste Zeile, der Himmel seine Überschrift“ – unter diesem Motto vereinten sich Lesungen von Gerhard Falkner und Lisa-Katrina Mayer, die sich der Prosa und den Gedichten von Sarah Kirsch angenommen hat. Aber dies wäre ohne die improvisierten und komponierten Stücke des Duo Aliada nichts gewesen…
Gerhard Falkners Gedichtband „Schorfheide“ wurde in der Literaturszene als Ereignis gewertet. Sein Vortrag auf der kleinen Bühne des uralten Hofes Meyer zur Müdehorst, dem Ausgangspunkt für die Wanderung, betreibt eine „literarische Vermessung von Landschaft“ und beinhaltet einen Appell: Wenn Menschen sich nicht wieder für die Natur öffnen, bleiben schließlich nur Digitalnerds und Stadtneurotiker übrig.
Wo die Worte enden, macht die Musik an diesem langen Tag weiter. Akkordeonspieler Bogdan Laketi lässt auf Falkners dichterische Appelle zunächst Arnold Schönbergs Sechs Kleine Klavierstücke folgen. Diese formstrengen Miniaturen wirken wie ein musikalisches Freiheitsbekenntnis passend zur diesjährigen Festivalausgabe „Angst und Freiheit“. Chick Coreas „Children`s Songs“, jetzt im Duo mit dem Sopransaxofon von Michal Knot helfen auf deutlich verspieltere Weise, die erlebte Sprachkunst mit der eigenen Fantasie zu synchronisieren, ebenso wie Aaron Coplands jazzige Trilogie „Three Moods“, die mit ansteckender Lebendigkeit in die Natur hinaus zieht.
Musik begleitet vom Duft der Heuwiesen
Vom uralten, heute gastronomisch und kulturell genutzen Gutshof nordwestlich der Stadt Bielefeld geht es von nun an auf Wanderschaft durch Wald und Flur, begleitetet vom Duft der Heuwiesen. Nach einer Wegbiegung stehen sie wieder da, der Saxofonist und der Akkordeonspieler. Ihr leichtfüßig swingendes Spiel vermählt sich mit den gedämpften Naturgeräuschen, bevor es zur nächsten „Station“ weiter geht. In weißem Kleid wie eine Erscheinung aus einer anderen Sphäre lässt die Schauspielerin Lisa-Katrina Mayer eine kleine Lichtung zur Bühne werden, um in Texten von Sarah Kirsch eine andere Spielart von naturbezogener Gegenwartsliteratur den Wandernden nahezubringen. Auch Sarah Kirsch „übersetzt“ eine „romantische“ von Natur in die Gedankenwelt von heute und dies nicht ohne politische Anspielungen. An einem Bachlauf stellt das Duo Aliada mit seinen fließenden Akkordbrechungen in Edvard Griegs lyrischen Stücken eine fast metaphysische Verbindung zur umgebenden Natur her.
Im Laufe vieler entrückter Stunden verfärbt sich der weite Abendhimmel. Ein bemerkenswertes skurriles Bodendenkmal mitten auf der weiten, duftenden Heuwiese wird zur Konzert-Fläche. Hier liegen die Grundmauern eines Klosters, das irgendwann um das Jahr 900 nie fertig gebaut worden ist. Auch diese Landschaftsbühne bespielen Michael Knot und Bogdan Laketic – zunächst mit osteuropäisch gefärbten, tänzerisch-jazzigen Stücken, etwa aus der Feder von Tomasz Syweres. Landschaft könnte unvergänglich sein, wenn wir aufhören würden, sie zu zerstören. Manche Musik ist de facto unvergänglich – zum Beispiel Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen, mit welchen das Duo Aliada den synästhetischen Erlebnissen dieses Tages ein Finale bereitet. Es wird dunkel und Insektenschwärme bereiten der Darbietung ein jähes Ende. Zumindest hier unterm freien Himmel zeigt die Natur, wer letztendlich das Sagen hat.
Eine solche literarisch-musikalische Wanderung ist ein soziales Erlebnis, das sich nach der langen Kontaktarmut während endloser Lockdowns so elementar anfühlt. Der Zusammenklang aus Musik, Sprachkunst und Literatur ließ eine der beliebtesten Veranstaltungen beim „Wege durch das Land“-Festival zum synästhetischen Gesamterlebnis werden. Für Michal Knot und Bogdan Laketic war der Tag ein besonderes Abenteuer. Draußen musizieren, dieses direkte Konfrontiertsein mit so vielen Sinneseindrücken bietet zuhauf Futter für die künstlerische Inspiration. Aber das Outdoor-Spiel ist ein Kraftakt für sich – vor allem in spieltechnischer Hinsicht ein Wagnis ohne Netz und doppelten Boden. „In einem geschlossenen Raum gibt es Nachhall und Resonanz. Diese unmittelbare Rückmeldung fehlt beim Spiel draußen komplett. Das ist ungeheuer anstrengend. Aber wir wollen die Erfahrung nicht missen“ bekundet Akkordeonspieler Bogdan Laketic.
Wege durch das Land
Gegründet wurde „Wege durch das Land“ im Jahr 2000 von Brigitte Lab-Ehlert, seit 2016 leiten Helene Grass und Albrecht Simons von Bockum Dolffs das Festival gemeinsam. Heute ist das Literatur- und Musikfestival ein mächtiger Verbund, in dem eine ganze Region in Sachen Kultur an einem Strang zieht. „Die Dramaturgie der Veranstaltungen ist stets eng mit dem Ort verknüpft und so wird die Historie und das Besondere eines jeden Ortes für einen Tag durch Literatur und Musik, durch Stimmen und Instrumente deutlich“, lautet die Intention bei diesem Festival für Ostwestfalen, zu denen auch immer wieder Uraufführungen und Auftragsarbeiten gehören. Bis Ende September stehen noch zehn weitere Erkundungen, Konzerte, Lesungen in durchweg hochkarätigen Besetzungen auf dem Programm. Am 27. August gibt es eine „Sternstunde“ im wortwörtlichen Sinn: Vorm Schloss Wendlinghausen in Dörentrup liest der Schauspieler Alexander Khuon Nacht-Erzählungen von Guy de Maupassant und Franz Kafka, ebenso Gedichte von Matthias Politycki und Dylan Thomas – dazu musiziert das Monet-Quartett auf Oboe, Horn, Fagott und Klarinette.
Text und Fotos: Stefan Pieper
Beitragsbild: Hof Meyer zur Müdehorst (Bielefeld)
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