“Ich bin immer auf Abenteuer aus. Es gefällt mir, meinen Weg zu suchen und zu riskieren und einen Weg zu finden zwischen zu viel und zu wenig Risiko. Das ist eine Sache, die mich lebendig fühlen lässt” sagt Klaus Widmann, der künstlerische Leiter des „Südtirol Alto Adige“-Jazzfestivals über seinen Antrieb, einmal im Jahr die internationale Jazzkultur mit dem Erlebnis einer attraktiven Region zu vereinen. Diese Mischung übt jenseits des etablierten Festival-Zirkus seit Jahren eine internationale Anziehungskraft. Das zurückliegende Pandemie-Jahr hat die Macher des Festivals hart getroffen. Hinter den Kulissen wurde nicht locker gelassen, damit die Flamme weiter brennt. Mit gerade mal zweimonatiger Vorlaufzeit konnte in den zurückliegenden zehn Tagen zwischen Bozen, Bruneck und Meran, mitten in der Stadt, in Museen und Hotels, aber auch hoch zu Berge die Wiedergeburt der Livekultur begangen werden…
Gut gefüllt ist der Kinosaal in der Bozener Altstadt zur Premiere eines Dokumentarfilms über die Situation in den zurückliegenden Monaten. Der Film „Spin off“, der von Matthias Keitsch und Sebastian Longarive realisiert wurde, ist hautnah dabei, wie das Südtiroler Musiker-Kollektiv „Euregio Improvisors“ wie zahllose andere für das Überleben der Kultur gekämpft hat. Auch liefert der Film viele Schlaglichter über alles, was diesen jahrzehntelang gewachsenen Festivalkosmos so einzigartig und kostbar sein lässt. Am Ende des Films gab es einen großen Moment voller Symbolkraft im Bozener Kinosaal zu erleben: Die „Euregio-Improvisors“ stürmen die Bühne, greifen zu ihren Instrumenten für ein furioses Liveset. Das klingt, als wenn es kein Morgen gäbe. Vor allem aber auch kein Gestern mehr, wo sämtliche Publikumskonzerte für lange Monate verstummen mussten.
Nur 27 und nicht wie sonst fast ein halbes Hundert Konzerte und auch längst nicht so viele Außenspielstätten machten die diesjährige Festivalausgabe zu einer etwas weniger spektakulären, dafür aber mindestens so emotional gehaltvollen Angelegenheit. Aus der Not geboren war die Entscheidung für eine zentrale Haupt-Spielstätte mitten in Bozen. Diese liebevoll gestaltete Parkanlage erweist sich als behagliches “Wohnzimmer” und kommunikativen Ort, der den Jazz dort hin bringt, wo er sein soll, nämlich mitten in die Stadt hinein. Die eingeladenen Bands spielen entsprechend befreit auf: Die junge ungarische Band „Deus Ex Quartett“ zieht in einen hypnotischen Sog aus modalem Jazz und Post-Rock hinein – sehr cool, sehr charismatisch wirkt dies. Aus Albanien kommend hat der Sänger und Gitarrist Orges Toce seine „Ockus-Rockus-Band“ mitgebacht, um hier einen explosiven Balkanfolk-Hochgeschwindigkeitsjazz frei zusetzen. Sein rauher, eindringlicher Gesang in albanischer Sprache artikuliert politische Aussagen, die sich im Booklet seiner CD auch in Übersetzung nachlesen lassen.
Das Ungehörte entdeckbar machen…
Seit Klaus Widmanns Übernahme der Festival-Leitung geht es bei diesem Festival um die Aneignung von Kontexten, um das Entdeckbarmachen von Ungehörtem. Publikum, Medienleute und vor allem Konzertveranstalter umringten den Belgier Joachim Badenhorst nach seinem Auftritt. Was der hier macht, wirkt extrem neu und so noch nicht gehört. Er spielt die Klarinette und dies traumwandlerisch aus tiefster Seele kommend. Um daraus noch viel mehr zu machen, stehen wunderbare technische Möglichkeiten bereit: Sampler und Loopstations. Mit ihnen weitet Badenhorst die Klanghorizonte für eine der bemerkenswertesten Combos dieses Festivals: Das Trio „Black Sea Songs“ vereint den rumänischen Geiger George Dumitrio (der einen Abend zuvor das halbe Thelonious-Monk-Repertoire in Soloinventionen für die Viola „übersetzt“ hatte) mit der türkischen Sängerin Sanem Kalfa. Diese zog alte Songs aus ihrer Heimat an der Schwarzmeerküste heran und ging emotional und stimmlich zum Äußersten.
Klaus Widmann vereint die Liebe zum Jazz mit einer großen Leidenschaft für die Region – und genau diesen Zusammenklang gilt es, ans Publikum weiter zu geben. So etwas führt an Orte, die in keinem Reiseführer stehen: Etwa in den Garten des Palais Toggenburg, einer alten Villa. Joachim Badenhorst gibt hier eine Solo-Performance wie keine andere – voll theatraler Elemente, Improvisation, Klangkunst und Elektronik-Pop. Eine traumverlorene Mixtur! Im Garten eines herrlich gelegenen Panorama-Hotels, pflegt die estländische Sängerin und Pianistin Kadri Vorant charmante, aber auch spritzig raffinierte Dialoge mit dem neugierigen Publikum. Obwohl das Südtirol-Festival völlig außerhalb des üblichen Festival-Zirkus besteht, ist es für viele Insider der Szene eine Inspirationsquelle wie keine andere.
Der von diesem Festival ausgehende Mix aus touristischer Erkundung und Jazz wirkt wie eine nachhaltige Alternative zum überlaufenen und kommerziell ausgeschlachteten Trubel, der in dieser Region während der Feriensaison so manche Orte aus den Nähten platzen lässt. Immer neue Kooperationen bringen ungewöhnliche Spielstätten hervor. Und ja: Wer hier unterwegs ist, muss erkennen, dass die regionale Wirtschaft sich den weichen Standortfaktor Kultur einiges kosten lässt. Widmann kann als Networker immer neu die Menschen für seine Sache begeistern, das ist spürbar.
Aus dem Erlös der Einnamen aus dem Skitourismus-Geschäft entstand das brandneue Bergfotografiemuseum Lumen hoch oben auf dem Gipfelplateau des Kronplatz. Thema der aufwändigen Ausstellungen sind viele philosophische, ästhetische und historische Bezüge zur Bergwelt. Geadelt wird der aufwendige Kulturort durch ein exklusives Gastspiel des Alto Adige Festivals, welches in dieser luftigen Höhe eine fast mystische Qualität bekommt: Das österreichische Duo „Raadie“ improvisiert auf elektrischer Zither und einer sphärischen schwebenden Trompete zur Videoeinspielungen aus der Bergwelt, etwa einer per Drohne aufgenommenen Choreografie mit Pistenraupen.
Die Bergwelt der Dolomiten als Bühne
Lange trauten sich viele Veranstalter keine Open-Air-Konzerte zu – währendessen war in Südtirol die Bergwelt längst zur großen Bühne für den Jazz geworden. Genau dies hat das „Südtirol-Festival“ zu einer Marke werden lassen. Für zwei deutsche Musiker-Gäste, den Schlagzeuger Max Andrzejewski und den Saxofonisten Johannes Schleiermacher wurde eine einsame Hütte unterm mächtigen Schlern-Massiv für mehrere Tage ein musikalisches Arbeitslabor. Die Präsentation der „Ergebnisse“ vor Publikum ist ein intensiver Dialog der Klänge und Ideen und eine Verständigung über Muster und Strukturen – nicht ohne den finalen Freejazz-Ausbruch zum Schluss. Zufällig reißt gerade in diesem Moment nach einem starken Regenguss der Himmel auf. Vorhang auf für die grandiose Szenerie!
Wie an einer Perlenkette aufgereiht, wirken die gezackten Massive von Langkofel, Sella, Marmolata, Rosengarten und Latemar bei einem anderen Außentermin des Festivals – hoch oben auf der Feltuner Hütte auf dem Ritten, einem über 2000m hohen Hausberg von Bozen. Menschen ruhen sich auf Liegestühlen aus. Kinder spielen und freuen sich über Höhenluft und ganz viel Platz. Den Soundtrack für all dies liefert die Münchener Band „Fazer.“ Gleich zwei Schlagzeuger takten den Landschaftsfilm in einen gleichmäßigen Ruhepuls. Trompete und Gitarre erzählen endlose Geschichten in hellen Farben dazu. Jazzkonzerte beim Alto Adige Festival sind oft synnästetische Erfahrungen.
Der Atem der Natur wird zu Musik
Eine große Entdeckung des Festivals kommt aus Ungarn. „András Dés Rangers“ sind eine erfahrene, junge Jazzband, die den musikalischen Feinsinn auf die Spitze treiben. Im Gespräch äußerten sich die Musiker hinterher selber verblüfft, wie sich der Dialog mit Landschaft und Natur anfühlt. Zunächst wird in einem idyllischen Wald hoch über Bozen Aufstellung genommen. Die friedliche Stimmung, die Gerüche und alles, was um sie herum passiert – alldas atmen die vier Musiker tief ein. „Ausgeatmet“ wird ein leichtfüßiger Kammerjazz voll beseelter melodischer Linien und subtiler Finesse. Schlagzeuger Matyas Szansei zeigt sich dabei als detailverliebter Rhythmiker mit dem wohl ungewöhlichsten Schlagzeug auf dieser Welt. Wenn er nicht gerade mit den Drumsticks auf einem Felsen sein Solo trommelt oder Body-Percussion betreibt…
Noch feiner und noch sensibler reagierten diese Meister der Intuition in wechselnden Kleinbesetzungen auf einer mehrteiligen Hüttenwanderung. Noch mehr wurde hier die Stille zum künstlerischen Material und es überrascht alle vier, welche Energie von so etwas ausgehen kann. Kurz vorm dritten Konzert kippt das Wetter und ein Wolkenbruch ergießt sich über die wandernen, zum Glück wetterfest ausstaffierten Jazzfans. Das dritte Konzert wird deshalb also in eine mit Schutzsuchenden vollgepferchte Berghütte verlegt. Noch einmal geschieht diese erfrischende ästhetische Unterwanderung, für die Klaus Widmann und sein Team ein phänomenales Händchen haben: Statt volkstümelnder „Stubenmusik“ erklingt hochintelligente, subtile Jazzpoesie. Aus den Händen einer Band, die von diesem Ort aus ihren Weg durch die Clubs und Festivals in Europa antreten werden.
Text und Fotos: Stefan Pieper