„Wir können nicht die Welt retten“: Moers-Festival 2020

Der Name Moers steht für Wagnis und „kreative Unterwanderung“, wie es Festivalmacher Tim Isfort charakterisiert. Unter den herrschenden Bedingungen ein internationales Festival zu machen, schloss das Risiko des Scheiterns ein. Aber wo ein Wille ist, tun sich Wege auf und wird improvisiert: Woher konnte Ersatz für viele abgesagte Programmpunkte geschaffen werden? Wie sollte alles für die behördlichen Hygienemaßnahmen passend gemacht werden? Welche Nachweise galt es zu generieren, um -letztlich erfolgreich! – eine beruflliche „Systemrelevanz“ für etwaige Einreisegenehmigungen zu belegen? Das Ziel wurde erreicht: Ein „vollwertiges“ viertägiges Moers-Festival, das jeden Anspruch an Vielschichtigkeit, Fantasie und Relevanz erfüllt, wenn auch die Bühne in diesem Jahr in erster Linie das world wide web war und die Festivalhalle zur Produktionsstätte wurde.

Der österreichische Saxofonist Wolfgang Puschnig artikulierte, wonach er und zahllose Kolleginnen und Kollegen im Moment so ausgehungert sind: Mitten im ekstatischen Solo verlässt er seinen Platz und „bespielt“ kurzerhand einen Kameramann. Musikmachen braucht Publikum, damit Empfindung  fließt. Und nicht nur Helene Erben von der Gesangsgruppe „Sjaella“ ist vom eingespielten „virtuellen Applaus“ irritiert. Die paar in großem Abstand voneinander sitzenden und zum Tragen von Masken verpflichtete Gäste und Kameraleute können einfach nicht das erzeugen, was ein großes Livekonzert bzw. die Illusion davon via online Streaming braucht…

Das Eintauchen in die musikalischen Wechselbäder und die Leidenschaft am Musikmachen behindert dies nicht – vor allem nicht nach monatelanger unfreiwilliger Livekonzert-Abstinenz. Es lebt der durchdachte dramaturgische Bogen, allein, weil die Erzeugung eines übergeordneten „Narrativs“ ein Anliegen des theateraffinen Festivalmachers Isfort gehört. Im ersten Jahr seiner Leitung symbolisierten Gartenzwerge den Clash der Mentalitäten alljährlich zu Pfingsten in Moers. Ein Jahr später wollte ein riesiger Holzpanzer auf der Bühne zur Zivilcourage provozieren. Im Ausnahmezustandsjahr 2020 schwirrt „Miss Unimoers“ über die Projektionsflächen bzw. mimt der  Profischauspieler Matthias Heße unablässig absurd komische, manchmal melancholische Posen und Bilder, in denen das kollektive Gedächtnis des Festivals oder auch das aktuelle Motto „Learning to fly“ Widerhall findet.

Krise als Chance: John Zorn war nicht gekommen, aber niemand hadert damit. Denn dafür strahlen viele spontan gebuchte neue Programmpunkte wie aufglühende neue Sterne im Klanguniversum des aktuellen Festivals. Namen wie Jonas Burgwinkel, Simon Camatta, Marie Daniels, Marließ Debacker, Silke Eberhard, Philipp Gropper, Robert Landferman, Christian Lillinger, Jan Klare, Maria Portugal, Florian Walter und viele mehr stehen für eine kommunikations- und austauschfreudige Szene in NRW, Berlin und anderswo. Was für aktuelle, frische Bands dies hervorbringt, ist in Moers zu erleben. Noch mehr laufen sämtliche Beteiligte in den spätabendlichen Sessions zur Höchstform auf. Spielen, als wenn es kein Gestern gegeben hat!

Wie fahrlässig, ja schädigend eine Absage gewesen wäre, begreift, wer sich klarmacht, wie viel persönliches Herzblut und komplexe Vorbereitungsarbeit gerade in Großbesetzungen steckt, etwa für den Auftritt der Band „Éte Large“. Bandleaderin Luise Volkmann arrangiert ihre Stücke aus einer tiefen Subjektivität heraus und zieht mit großer Empathie die menschlichen Potenziale ihrer Mitglieder ins Kalkül – all dies war in großer Direktheit spürbar!

Eine weite, leere Halle ist prädestiniert für kolossales Raumklang-Theater – in Moers erzeugt durch Heiner Goebbels neues Projekt „The Mayfield“. Hörbar war in den gewaltig donnernden Kaskaden aus Flügel, Schlagwerk und einem elektronischen „Ondes Martinot“, dass Heiner Goebbels heute in erster Linie aus sinfonischen Klangvorstellungen und den Erfahrungen mit den besten Neue-Musik-Ensembles im Lande schöpft und hiermit der musikalischen Improvisation neue Nahrung verschafft. Eine ganz andere Besetzung profitiert nicht minder von der akustisch offene Raumwirkung: „Hilde“ heißt eine Kölner Band, die mit subtil eingesetzter Gesangstimme, hauchzarten Streichergesten und Posaune eine entrückende, manchmal rätselhafte Poesie erzeugt.

Kein Programmpunkt ohne Anthithese – ein Prinzip, was in Moers wie kaum sonstwo die eigene ästhetische Aufgeschlossenheit jedes Jahr aufs neue weiter bildet. Tim Isfort begeisterte sich nach eigenem Bekunden ursprünglich für The Who und The Undertones, bevor er erst später Ornette Coleman entdeckte. Solche persönlichen Prägungen fördern viel Auführerisches zu Tage. Eine scharfe Prise französischer Anarchie liefert das „Trio Piol“. Geniale Rhytmen, abgedrehte Gesänge, Ideen auf der Überholspur! Noch extremer sind die Soloperformances der einzelnen Bandmitglieder.  Auch das Berliner Noisepunk-Trio „Gewalt“ rockt dystopisch brachial die Halle. „Wir hatten erst mal ganz schön die Sinnkrise, weil da nur Kameras und kein echtes Publikum war“ bekundet der Gitarrist und Sänger die Alternativlosigkeit von prallgefüllten Clubkonzerten, in denen die Luft brennt. Aber die aufgestaute Spiellust ging auch mit diesen Musikern durch. Auch dazu liefert das Festival eine Gegenwelt: Wie sehr ambitionierte Popmusikbands auf die klangsinnlichen Errungenschaften von Jazz, hier unter anderem des Vibrafons, bauen, demonstrierte die Elektronik-Indie-Postrock-Band The Notwist.

Moers gab vier Tage lang alles – ohne Publikum, Draußensein, Partystimmung, Umarmungen, wirkliche Nähe. Tim Isfort vermisste dies alles selbst. Wie sich überhaupt ein Festival anfühle in einer aus den Fugen geratenen Welt? „Wir können die Welt nicht retten hier, aber es ist vielleicht ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Die Party hat Pause, dafür wird Moers zum Ort des Nachdenkens. Neben einer ruhigen, gehaltvollen Debatte um Gendergerechtigkeit in der Kulturszene, macht ein Referat von Bertold Seliger deutlich, wie das Sein auch im Kulturbetrieb das Bewusstsein prägt. Seliger seziert ökonomisch kompetent die Mechanismen, die einer Umverteilung von unten nach oben – auch im Geschäft mit der Musik – zu Grunde liegen. Alles Naturgesetze, die vom Himmel fallen?

Auch ganz ohne Worte wird Moers im Jahr 2020 beklemmend politisch: Geplant war eine Aufführung von Julius Eastmans minimalistisch-empfindsamer Komposition „Evil Nigger“  für vier Pianos – ein repetitiv-minimalistisches Stück, in denen Teppiche aus Tonrepetitionen zu einer organischen Schwingung werden, Melancholie verbreiten und extreme emotionale Pforten aufstoßen. Ein paar Tage vorher wurde der Afroamerikaner George Floyd von einem US-Polizisten ermordet. Die Musiker sind in schwarze Kapuzenpullis gehüllt und nehmen auch auf der Bühne ihre Mundschutzmasken nicht ab. Floyds letzte Worte „I can`t Breathe“ haben sie hinten auf ihren angebracht.

Text und Fotos: Stefan Pieper

 

 

 

 

 

 

 

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