Eine enorme Vielschichtigkeit und zahllose imponierende Momente – so etwas ergab sich scheinbar wie von selbst, als Florian Ross, Sebastian Gille, David Helm und Fabian Ahrends in einem einzigen Tag ihr neues Album „Reason and Temptation“ eingespielt haben. Es entstand sozusagen als Nebenschauplatz eines größeren Projektes, zudem die vier Kölner Musik ohnehin im Studio waren. Die Folge: Ein freier Atem im Spiel aller Beteiligten ließ auf Anhieb eine organische und verblüffend konturierte Gesamtwirkung entstehen.
Erstmal locker machen in einer angeregten Konversation lautet die Parole noch beim ersten Stück – einer lässig swingenden Modern Mainstream Nummer. Aber die hat es in sich: Hinter jedem suchenden Harmoniewechsel lauert viel forschender Freigeist, der auf den folgenden Stücken auf verschlungenen Wegen Zustände auskostet. Viele Diskurse nehmen ihren Lauf, das Jazz-Versuchslabor, das dafür die Ideen liefert, hat nach wie vor geöffnet. Punktuelle Freejazz-Ausbrüche und virtuose Momente sind nie Selbstzweck, sondern stets ein Fazit vorhergehender Entwicklungen. Immer wieder erobern tief lyrische Stimmungen den Raum, denn dieser mutige Jazz folgt in erster Linie der Emotion, für welche der Intellekt das Handwerkszeug und ein Vehikel zur Freiheit darstellt. In diesem Wechselspiel aus gereiften kompositorischen Ideen des Bandleaders und spontanen Resultaten im Kollektiv fühlt sich dann auch das Stück „Celeste“ von Ralph Towner in bester Gesellschaft.
Tief geerdet ist das Klavierspiel von Florian Ross. Sebastian Gilles hymnischer, manchmal zerbrechlich-bebender Sound auf dem Sopran bedient eine weite Gefühlspalette. Die feinnervig-filigrane Rhythmus-Section bestehend aus David Helm am Bass und Schlagzeuger Fabian Ahrends sorgt für dauerregten Spannungslevel, greift aber auch ebenso empfindungsstark ins melodische Geschehen ein. Fazit: Diese vier Kölner Spieler sind so charaktervoll, dass sie gar nicht anders können, als Farbe zu bekennen.
von Stefan Pieper
CD Florian Ross: Reason and Temptation, toypianorecords 2020