Jeder ausübende Musiker kennt Etüdenbücher: Jene systematisch aufbauenden Sammlungen, in denen in meist kleinen, reduzierten Stücken bestimmte spielerische Probleme angegangen werden. Aber wenn große Komponisten am Werk sind, gehen solche „Versuchsanordnungen“ über das rein technische weit hinaus und es entstehen große künstlerische Schöpfungen für die Ewigkeit.
Jazz als freiere, improvisierte Praxis emanzipiert sich von jeder rigiden Systematik, wo es ums unmittelbare Spielen geht. Auf der neuen Doppel-CD des Saxofonisten Heinrich von Kalnein drängen sich solche Gedanken dennoch auf. Nicht falsch verstehen: Der in Graz lebende Saxofonist, Bandleader, Komponist und Pädagoge würde wohl nie schnöde Techniketüden veröffentlichen. Aber das neue Release leistet sich eine fast schon enzyklopädische Bandbreite, um die Vielfalt an musikalischen Möglichkeiten im Jazz zu bilanzieren.
Volume 1 stellt die Individualität von Instrument und Musikerpersönlichkeit heraus. Bemerkenswert ist der Entstehungsprozess dieser lupenrein klingenden Aufnahmen. Heinrich von Kalnein improvisierte nämlich die meisten dieser Stücke zunächst allein für sich im Studio von Joachim Kühn auf Ibiza, übrigens auf persönliche Einladung des berühmten Pianisten hin. Die Bassistin Gina Schwarz und der Drummer Lukas König spielten später ihre eigenen Tracks dazu.
Der Prolog ist ein einladendes Rezitativ. Stück zwei widmet sich dem Aspekt von Rhythmisierung einer Bluesskala. Bemerkenswert ist, wie auch Kalneins Partner den Spagat aus befreitem Spiel und Kontrolle auf den Gegenstand des Stückes hinbekommen. Ein anderes Stück „übt“ sich in einer Art Bebop-Stilistik, lenkt dabei den Blick auf den Bass als lebhaftem Transmissionsriemen. Anderswo geht es um den assoziativen Dialog zweier gleicher Partner. Mal geht es um die hohe Kunst des freien Spiels, respektive um Freejazz-Flächigkeit in unmittelbarer Reibung zwischen Sax und Schlagzeuger, vor allem um die Kunst des plausiblen Spannungsbogens dabei. Immer wieder zeigt sich die Souveränität über Gesten, Stilistiken und Tonlagen im beseelten, von reicher Erfahrung gesättigten Spiel Heinrich von Kalneins, der den Funken auf seine reaktionsschnellen Mitmusiker über springen lässt.
Auf CD 2 wird dann das Aufgehen im gleichberechtigten Kollektiv vorgeführt. Der Gestus ist hier auf Anhieb beschwingter, ja musikantischer und nicht ganz so streng systematisch, auch wenn die Stücke deutlich stärker auskomponiert sind. Es beginnt mit einem leichtfüßigen Tango. Ein polyphonisch vieldimensional verzahntes „Blue Train“, gefolgt von einigen suitenartigen Stücken demonstrieren, wie sich vier Saxofone zu einer gemeinsamen Stimme, Rhythmusgruppe und vielem vereinen. Das geht so organisch, dass auch die orginell eingestreuten Synthesizer-Parts von Uli Rennert das Gefüge kaum aus der Fassung bringen.
Wer selbst Jazz-Musiker ist, dürfte sich bei all diesen prägnanten Anordnungen – vor allem auf CD 1 – in einen imaginären Workshop hinein gezogen fühlen. Und auch jeder „passive“ Musikhörer erklimmt beim aufmerksamen Studieren dieser Stücke neue Erkenntnisstufen. Und fühlt sich auch noch gut unterhalten dabei.
Stefan Pieper
CD:
Heinrich von Kalnein: Möbius Strip
Natang Records 2020
LIVE
19.05. DE – Freiburg, Jazzhaus
20.05. DE – Freiburg, Jazzhaus
09.06. DE – Borkum, Kulturinsel
11.10. DE – Stuttgart, Bix
18.10. DE – Düsseldorf, Schmiede
19-10. DE – Dortmund, Domicil
22.12. DE – Freiburg, Jazzhaus
10.01. DE – Neuburg a.d.Donau, Birdland
11.01. DE – Neuburg a.d.Donau, Birdland