Das kann einem als jungem Jazz-Novizen schon mal passieren: Da lauscht man einer Swing-Combo und ordnet das aberwitzige Speed-Solo jenem Instrumentalisten zu, der mit vollem Körpereinsatz in die Saiten greift. Erst später wird einem klar, dass es sich hierbei um den Rhythmus-Gitarristen handelt… Der Solist ist jener, der da ganz ruhig und mit leicht verschmitztem Blick über sein Griffbrett tanzt: Helmut Nieberle.
Anfang der 1980er Jahre muss das gewesen sein. Die Combo war die „Rabo Swing Maschin“ Richard Wiedamanns, der den 1956 in Kaufbeuren geborenen Gitarristen als Lehrer an die Regensburger Sing- und Musikschule geholt hatte – allerdings erst, nachdem er sich in einer Session von seinem Spiel hatte überzeugen lassen. Durch Nieberles Geschick und seine Begeisterungsfähigkeit als Lehrer entwickelte sich die Stadt nach und nach zu einer Hochburg der Jazzgitarre, erst Recht, als sich ihm mit Hans „Yankee“ Meier und Helmut Kagerer weitere Saitenvirtuosen beigesellten. Mit Kagerer bildete Nieberle dann auch eine legendäre Duopartnerschaft, die 1991 mit dem Kultur-Förderpreis des Freistaates Bayern und 2007 mit dem Archtop Germany Award gewürdigt wurde.
Der neugierige Traditionalist
Entscheidend für Nieberles musikalische Berufung wurde nach autodidaktischer Beschäftigung mit dem Blues und dem Gipsy-Jazz Django Reinhardts ein Konzert mit Barney Kessel. Bei dem Bebop-Gitarristen besuchte er in der Folge Workshops – neben solchen bei Joe Pass, Herb Ellis, Jim Hall oder Attila Zoller. Mit der ihm eigenen Sorgfalt und liebevollen Akribie ging er diesen unterschiedlichen Traditionen auf den Grund und erschloss sich darüber hinaus ein immer breiteres Terrain an Stilen: brasilianische Choros, afro-karibischen Calypso, den Tango… Dabei perfektionierte er die seltene Kunst, in all diesen Genres nicht nur virtuos, stilgerecht, melodiebetont und relaxed zu improvisieren, sondern auch zu komponieren. Eine seiner letzten Aufnahmen, „Swing Is Here To Stay“, legt davon auf wunderbare Weise Zeugnis ab.
Königsdisziplinen Begleiten und Arrangieren
Endgültig seine ganz eigene Sprache hatte Nieberle ab Ende der 1980er Jahre gefunden, als er die siebensaitige Gitarre für sich entdeckte. Mit der zusätzlichen Bass-Saite erweiterte er nicht nur das akkordische Spektrum seines Spiels, sie fügte sich vor allem perfekt in eine Disziplin, die andere Musiker oft wenig ernst nehmen: das Begleiten. Die Fähigkeit, anderen Instrumental- und insbesondere Gesangsstimmen ein unaufdringliches, aber resonanz- und detailreiches Fundament zu bereiten, hat er wie kaum ein zweiter zu einer eigenen Kunstform erhoben. Angesprochen auf seine schöne Partnerschaft mit Jeanne Gies auf der CD „Tomorrow And Today“ meinte er vergangenes Jahr schmunzelnd: „Gesang kann man auf der Sechssaitigen ja gar nicht begleiten!“
Eine weitere Königsdisziplin eroberte sich Helmut Nieberle mit dem Arrangieren. Nieberle, der offen davon sprach, von „ewigen solistischen Ergüssen“ schnell gelangweilt zu werden, entwickelte ein traumwandlerisches Gespür dafür, wie man Songs einer bestimmten Besetzung auf den Leib schneidert. In kammermusikalischer Perfektion war das in jüngerer Zeit mit „Bolero Berlin“ zu erleben. Die Band, für die sich Nieberle mit Mitgliedern der Berliner Philharmoniker zusammengetan hatte, wurde zu Recht für ihre ausgefeilten, dabei immer lockeren Programme zwischen Klassik, Jazz und Latin bejubelt.
Internationales Format, regionale Wirkkraft
Bei aller stillen Zurückhaltung, mit der er Konzerte seiner Bands souverän, gleichsam aus dem Hintergrund zusammenzuhalten vermochte, sollte man indes Nieberles Soloqualitäten nicht unterschätzen. Auch wenn pure „Gitarristik“ sicher nicht seine Sache war – obgleich er technisch dazu jederzeit in der Lage gewesen wäre – konnte seine Lust am Instrument mitunter durchaus explosiv hervortreten. Unvergessen, wie er bei einem Konzert seines Freundes und Kollegen Karl Ratzer von diesem mit auf die Bühne gebeten wurde und mit einem irrsinnigen Blues-Solo ohne mit der Wimper zu zucken alles in den Schatten stellte, was an diesem Abend sonst so passiert war.
Keine Frage: Helmut Nieberle hätte mit seiner Brillanz und Vielseitigkeit das Zeug zu einer internationalen Konzert- und Studiokarriere gehabt. Er zog es aber immer vor, mit Musikern zusammenzuarbeiten, mit denen er menschlich und musikalisch auf einer Wellenlänge war. So blieb er langjährigen Formationen wie „Cordes Sauvages“ und Partnern wie Jim Mullen, Howard Alden oder Stephan Holstein treu, prägte dafür die regionale Kulturszene als Bandleader, Sideman, Pädagoge, Session- und Theatermusiker um so entscheidender. Das Jazzfeuer, das er bei seinen zahllosen Schülern entfacht hat, darunter Paulo Morello und David Plate, brennt weiter.
Seinen letzten Auftritt hatte Helmut Nieberle am Sonntag vor gut einer Woche in Regensburg. BR-Redakteur Roland Spiegel präsentierte dort ein neues Jazz-Buch, Nieberle steuerte passend zu den Themenblöcken Standards und Eigenkompositionen bei. Neben anderen wurde so das irische Traditional „Danny Boy“ zu seinem Abschiedslied. Am 9. Februar starb Helmut Nieberle nach schwerer Krankheit in Regensburg. Seine Musikalität, sein Witz, seine Wärme fehlen schon jetzt.
- Juan Martin Kochs aktuelle CD-Rezensionen zu Helmut Nieberle finden Sie hier.
- Beitragsbild: Juan Martin Koch