Mit Vorschusslorbeeren aus den USA überhäuft, kommt die Miles-Davis-Doku „Birth of the Cool“ Anfang Januar auch in die deutschen Kinos. Leider hat es Regisseur Stanley Nelson in Sachen Materialfülle und Promidichte etwas zu gut gemeint.
Nach einer Viertelstunde raucht einem schon der Kopf. Man hält den freundlicherweise zur Verfügung gestellten Stream an und zählt in seinen Notizen nach: 16 Zeitzeugen sind in diesen 15 Minuten zu Wort gekommen (darunter Weggefährt*innen wie Jimmy Heath, Jimmy Cobb, Wayne Shorter und Juliette Gréco) und mit gemischten Gefühlen rechnet man hoch, wie viele es wohl am Ende der knapp zwei Stunden sein werden…
Um es vorwegzunehmen: Es sind knapp 45 „talking heads“, die ihre mehr oder weniger gehaltvollen Erinnerungen und Kommentare in die Kamera sprechen, und diese Zerstückelung führt leider dazu, dass zu keinem Zeitpunkt so etwas wie ein Erzählfluss, geschweige denn ein dem Gegenstand angemessener musikalischer Rhythmus entstehen kann. Einer der ersten Interviewpartner ist Quincy Troupe, der Co-Autor von Miles’ Autobiografie. Die von Carl Lumbly mit rauchig-sonorer Stimme eingesprochenen Ausschnitte daraus geben dem Film zumindest eine persönliche Note.
Miles Davis’ Kunst der Pause, des Aussparens, des Weglassens, seine Fähigkeit Räume zu öffnen statt zuzuspielen, haben Regisseur Stanley Nelson leider nicht inspiriert. Zu groß war offenbar der Druck, jeden bereitwillig Auskunft gebenden Promi oder Experten dann auch zu zeigen, zu groß die Versuchung, jeden Schnipsel an rarem Filmmaterial zu nutzen, immer noch ein Foto dazwischenzuschneiden. So wunderbar diese im Einzelnen auch sein mögen – vor allem einige Fotosequenzen sind grandios: im atemlosen Umfeld neutralisieren sie sich gegenseitig. Um das politische und gesellschaftliche Umfeld zu umreißen, erhöht Nelson zum Einstieg in vier markante Jahre die Bildfrequenz noch um ein Vielfaches: das Jahr der Geburt 1926, der Umzug nach New York und die Begegnung mit Charlie Parker 1944, der Auftritt in Newport und der Columbia-Deal 1955, der Aufbruch in die „elektrische“ Phase 1969. Dies gibt der anschließenden Rückkehr zur Normalgeschwindigkeit den Anschein von Beruhigung – ein Effekt, der schnell wieder verfliegt.
Im Dickicht der Bilder und Statements wird aber natürlich dennoch etwas von der Faszination des Musikers und des Menschen Miles Davis spürbar, und auch die Schattenseiten – der Drogenmissbrauch, die Gewalt gegen seine Frau Frances, die Krankheiten – werden nicht ausgespart. Substanzielles zur Musik selbst erfährt man kaum und nur am Rande, auch wenn der Versuch erkennbar wird, bei einigen zentralen Alben („Birth of the Cool“, „Kind of Blue“, „Bitches Brew“) und den prägenden Formationen etwas länger zu verweilen. Zur Bedeutung von Miles’ Trompetenspiel etwa ist nicht mehr zu erfahren als die hübsche Charakterisierung von Jimmy Heath, der seinen Sound als „pure, elegant and tasty“ beschreibt.
In Erinnerung bleiben die Bilder der formvollendet gekleideten, eine Aura von Coolness und Hipness verbreitenden Stilikone (eine schöne Fotoserie zeigt ihn bei der Maßanfertigung eines Sakkos), einige persönliche Erinnerungen und die bezeichnende Auskunft des Sohnes Erin, sein Vater habe nie über zurückliegende Platten gesprochen, habe sie nicht einmal zu Hause gehabt.
Der rastlose, musikalisch stets nach vorne blickende Miles: Zumindest dafür vermittelt Stanley Nelsons überbordender Film ein Gefühl. Vielleicht erzeugt das im Kino dann doch einen Sog.
Juan Martin Koch
Miles Davis: Birth of the Cool
Regie: Stanley Nelson
113 Min.
Kinostart: 2. Januar 2020
Verleih: Piece of Magic Entertainment
https://www.milesdavismovie.com
Beitragsbild: Miles Davis. (c) Piece of Magic Entertainment