Zwischen Komposition und Improvisation schwankten auch die letzten Beiträge zum Jazzfest Berlin 2019. Eine Fungus-Oper vom Berliner KIM Collective, medial bewegt. Eine gelenkte Gruppenimprovisation eines exotisch besetzen Septetts um Anthony Braxton und ein intimes Duo von Albert-Mangelsdorff-Preisträger Paul Lovens und Florian Stoffner. Spannweiten tun sich da auf. Manches verpufft in einer Idee, die sich nicht realisiert.
KIM Collective: The Mass of Hyphae a KIM Collective Fungus Opera
Auf der Bühne ein kreisrunder Aufbau für die Musikerinnen, an der Seite eine Leinwand für Bewegtbild, gerne geteilt. Aus den Lautsprechern tönt es schon ein bisschen, bevor die Musikerinnen erscheinen. Nachdem diese von den Seiten einströmen und die Bühne entern geht es gleich zur Sache mit einem Powergroove auf Patternbasis. Danach wird es bunt und vielsagend. Fliegende Bühnenbeleuchtung, eine erdrückend kraftvolle Gruppenimprovisation. Die Musikerinnen verlassen ihre Plätze, plötzlich jodeln die zwei Sängerinnen von den Tribünen. Später wird zu viert am Marimbaphon gespielt, dann ist die Bühne auch mal fast leer, ein Schlagzeug spielt von unter Bühne, gedämpft zu hören, aber mit Vibrationen, die die Fußsohlen spüren.
Es gibt Lichtchoreographie. Eine Fuge der Blasenden mit allen Schikanen im Choralstil, diastematisch an Bach Kreuz-Motivik erinnernd. Dicht in Krebs, Umkehrung, Diminution. Auf dem Bewegtbild vielerlei zu sehen unterdessen. Sportliches, Wachstumsphasen von Pilzen, später rasante Fahrten durch Häuserschluchten, marschierenden Soldatinnen, alte Kriegsszenen, den Musikerinnen selbst, nachdem sie den Raum verließen. Dann schnellere Schnitte, einstürzende Altbauten. Live-Elektronik klingt aus den Lautsprechern. Es gibt Patterns mit Aufschrei-Impertinenz. Oder eine passacagliaartige musikalische Szene. Oder zuvor eine ganz anrührende kammermusikalische Passage.
Wieder eine Wanderung der Musikerinnen, die später im Rang auftauchen und im Chor singen. Große Apokalypse danach auf der Bühne; laut. Wachstum. Zerfall. Es passiert wirklich reichlich etwas in dem Kraftwerk der Musik. Lauter oders und auchs und unds.
Das KIM Collective nennt es eine Oper und irgendwie ist das auch so etwas. Es könnte aber auch eine Stummfilmbegleitmusik sein. Es ist mal vielleicht dies, mal etwas anderes. Es ist irgendwie aber auch nicht entscheidend wie man das nennt. Die „Oper“ hat Sogwirkung, sie hat auch Abstoßungswirkung. Es hat eine Ich-muss-mich-dazu-verhalten-Wirkung. Großes Theater, extreme Emotionen. Großartig.
Anthony Braxton’s ZIM Music
Dagegen steht danach die kleine siebenköpfige Formation von Braxtons Komposition der Improvisation. Die Musikerinnen sind in Hufeisenformation aufgestellt. Zwei Harfen, Saxophon, Tuba, Akkordeon, Violine und die vier Saxophone des Anthony Braxton. Eine einstündige Kammerimprovisation um den Meister der undurchsichtigen Kompositionsideen. Das sind hier Modelle, gebaut von Anthony Braxton, die ineinanderfließen, völlig undurchschaubar.
Das klingende Resultat: Ebenso. Die exotische Klangmischung könnte an sich hilfreich sein und die Musik insgesamt auffächern. Sie tut es aber nur selten. Die Modelle geraten einfach ineinander und erzeugen eine klangliche Komplexität, die häufig genug allein wie ein Rauschen daherkommt. Nach außen erschließt sich das nicht so einfach – außer manchmal. In den ersten Minuten schwanken allein im Gesamtbild die Dichtegrade. Nur wenn das Ensemble als ganzes geführt wird – vor allem später, durchblickt man das Gewirke.
Und das wirkt dann sogleich fast schon wieder banal. Andererseits: Es gibt Passagen, wo sich das Ensemble mit drei Miniensemble aufteilt. Das sieht man mit Zeichengebung im Initialen. Aber hören? Viel Aufwand für viel Durcheinander, viel Kompliziertheit ohne Komplexität. Wie kann man das adäquat wahrnehmen wollen, wenn zugleich auch Passagen solistischer Virtuosität wie im traditionellen Jazz inkludiert sind? Als Werk der Minimalstformen? Als Gesamtverlauf, den man ja erst am Ende kennen kann. Soll man sich im Strom der Ereignisse mittreiben lassen oder sie hörend rationalisieren? Von sich aus leistet die Musik wenig Hilfestellung. Man ist entweder drinnen oder draußen in dieser Musik, die ab und zu zwar Türen öffnet, doch soll man durch sie hindurch gehen, nicht wissend, ob der Abgrund dahinter möglichweise real ist oder nur eine akustische Täuschung?
Diese Differenzen kosten Gehirnschmalz, verbrauchen extreme Hörverarbeitungsenergie. Das ist mühsam und ermüdet.
Albert-Mangelsdorff-Preis: Preisverleihung an Paul Lovens – Konzert mit Paul Lovens und Florian Stoffner
Der Schlagzeuger Paul Lovens hat den Albert-Mangelsdorff-Preis erhalten. Was man zu Lovens wissen sollte, lesen Sie am besten in der nmz. Hans-Jürgen Linke hat den Musiker dort portraitiert. Er zitiert ihn mit den Worten: „Das improvisierte Solo eines Musikers mit anderen, die ihn begleiten, ist eine Sackgasse. Vor uns liegen viele Jahre einer kollektiven, improvisierten Anstrengung, die intuitive und reife Zusammenarbeit von Ebenbürtigen.“
Das haben Lovens und der Gitarrist Florian Stoffner auf der Stelle getan in dem auf Laudatio (Manfred Schoof mit „intimen“ Einblicken) und Grußworten von Veranstalterinnen und Preisgeld-Stifterinnen augenblicklich getan.
Die hohe Kunst des Duospiels. Denken Sie mal ans Kochen. Zu zweit? Das ist die schwerste Kunst, wenn man nicht vorweg arbeitsteilig denkt und die Arbeit verteilt nach Chefköchin und Schnibblerin, oder musikalisch gewendet: nach musikalischer Leitung und Vollzugsmusikerinnentum. Wie gesagt, schwierig das. Da geht manchmal was in die Hose, dafür besteht ein dauerhaft hoffnungsvolles Restrisiko überraschenden Gelingens. Das gelang den beiden Musikern eben grandios, ebenbürtig. Zwei längere und zwei kürzere Kollektivimprovisationen mit einer Blackbird-Zugabe. Klingendes Glück aus Spontaneität. Gesamtgehörtes. Feinteiliges. Dünnhäutiges.
Nachsatz
Zur Gestaltung der Preistrophäe, sagte Lovens, erinnere ihn an einen Globus, nur dass in der Mitte die Erde fehle. Irgendwann wird sie weg sein, sagte er, genau wie wir.
Das irdische Leben müssen wir einstweilen doch noch. Und es entstehen zu lassen, das kann man wie Braxton mittels „sonic genomes“ forschend probieren. Oder man legt gleich los. Einen Plan werden wir schon finden. Geht der eine nicht, geht vielleicht ein anderer. Man muss halt ein bisschen improvisieren.
Nachklapp
Sehr gut übrigens die ARD-Jazznacht von Samstag auf Sonntag. Sechs Stunden mit Musik vom Jazzfest, kommentiert von den Kritikerinnen der angeschlossenen Funkhäuser.
Die Musikerinnen:
KIM Collective: Max Andrzejewski, Paul Berberich, Brad Henkel, Simon Kanzler, Liz Kosack, Raphael Meinhart, Dora Osterloh, Otis Sandsjö, Max Santner, Dan Peter Sundland, Laura Winkler. Georg Schütky stage director / Jonas Hinz sound / Daniela Imhoff video / Irene Selka light
Anthony Braxton’s ZIM Music (USA): Anthony Braxton saxes / Ingrid Laubrock saxes / Erica Dicker violin / Adam Matlock accordion / Jacqueline Kerrod harp / Brandee Younger harp / Dan Peck tuba