Jazzfest 2019 _ Sonic Genome _ Anthony Braxton
Musik im Treppenhaus. Ein Kritiker geht vorbei. Foto: Hufner

Jazzfest Berlin 2019 | Tag 1 | Supralative – Anthony Braxtons „Sonic Genome“

Lange Schlangen vor dem Martin-Gropius-Bau in Berlin waren angekündigt: Man tat viel, um den Auftakt zum Jazzfest Berlin zu pushen. Karten waren ausverkauft. Voll war es trotzdem nicht, denn der Gropius-Bau ist groß. Er ist ein Museum für moderne Kunst. Ein Kasten, ausladend groß und mit hohen Räumen. Lauter Installationen in den zahlreichen Räumen, minimal bis maximal. Im Zentrum des Ganzen ein agoraartiger Lichthof. Alles ist hier ganz anders als im Haus der Berliner Festspiele, wo für gewöhnlich seit Jahren das Jazzfest seinen Ausgangspunkt gefunden hat. Der Raum wirkt.

Groß auch das Ansinnen, hier Anthony Braxton mitsamt mehrerer Ensembles einzuladen, um dann – laut Programmheft – 450 seiner Werke dort miteinzustellen, verteilt auf sechs Stunden von denen der Kritiker hier etwa zweieinhalb verweilte. Es war – folgt man dem Programminformationen des Veranstalters – die dritte Aufführung dieser Art. Superlativ? Nein: Supralativ! Das „Sonic Genome“.

Ein Sinnesgeflecht

Was war? Eine Vielzahl von Geräuschen, die durch die Installationen der Ausstellungen im Haus erzeugt wurden, man geht über verschiedene Bodenbeläge (Rindenmulch, Teppich, Steinböden, Holz, Kabel), die Ausstellungsräume mit den Installationen haben ebenfalls verschiedene Charaktere, ebenso wie deren akustischen Eigenschaften. Olfaktorische Eindrücke von muffig bis licht oder plastelin treten, je nach Platz und Raum hinzu. Ausstellung eben!

Daraus resultierend: Ein Geflecht aus einer Vielzahl von Sinneseindrücken. Darin dann diese 450 Kompositionen von Anthony Braxton erklingen zu den sich wechselnde Formationen finden „wobei 14 Musiker*innen aus Braxtons engstem Umfeld sowie 45 Musiker*innen aus der diversen Musikszene Berlins (darunter Vertreter*innen der Echzeitmusikszene und Mitglieder vom Andromeda Mega Express Orchestra, Trickster Orchestra und KIM Collective) und sechs Mitglieder des Australian Art Orchestra an der transatlantischen Kooperation beteiligt sind.“ Mal ist es ein Duo von zwei Violinen in einem Treppenhaus, mal ist es eines Vokalgruppe in einem Kuppelraum. Zwischendrin dann ein orchestraler Block im Lichthof, geleitet von Braxton selbst – eine akustische Insel, die die Hörerinnen magnetisch anzieht, der Meister himselbst. Es geht: Zack, zäck, rüttel, grömmel, ratack, atack, piffff – dann verlöschend und ausfasernd.

Darin bewegen sich die Menschen, genauer gesagt: sie schreiten, wo sie nicht stehen oder sitzen oder liegen. Übrig bleibt dann ein Gruscheln.

Das Momentische des Klang-Genoms

Wie das Ganze an sich komponiert ist, kann man nicht erahnen. Das geschieht teilweise wohl spontan, teilweise nicht. Ja, das kann man so machen.

In der Tat ergibt sich so ein vollkommen einzigartiges Gesamtwerk, dessen akustische Zufälligkeit rein momentisch ist, wurzellos mäandernd, kraftvoll Pulse setzend mal, mal kleistteilig verhuscht, aber auch kriechkellerkammerintim eine Weite aus Leere aufspannend. Alles jedoch eher lauter (auch leiser) „Sonic Gnome“ denn ein „Sonic Genome“. Mit letzterem hat es die Rätselhaftigkeit sicher gemein, mit ersterem die Wirkung. Disfokussiert, unscharf, partiell in einer willkürlichen Präzision folgend. Aber zusammenhängend? Warum muss etwas zusammenhängen, ja, wie hängt überhaupt etwas musikalisch zusammen außer durch die Zusammenhänge, die unsere Wahrnehmung baut. Hier bei dieser Performance sowieso nicht. Anders als bei einem Bild an der Wand (so mal in Analogie zur Guckkastenbühne üblicher musikalischer Aufführungen), hat ja jede in den Räumen anwesende Person ihre eigene Sinnesperspektive, je nach dem Ort an dem sie sich befindet. Es waren gewissermaßen so viele Premieren wie Personen im hörbaren Teil des Gebäudes.

Die Fotos mal surreal verfremdet. Unsere Chefinfotografin war noch nicht dabei.

Liquidroom, longnow, potzplonk – Alles ist in Afri Cola

Ein ungewohnter Auftakt für das Jazzfest Berlin. Die Stimmung allerorts eigensinnig entspannt, frei von Aufführungsritualen mit Schlussapplaus. Angenehm unproduktiv, lässig, in aller Leerheit übervoll mit Sinnlichkeit. Ein Keinevent-Event. Man darf sich aufs Angenehmste gelangweilt fühlen.

Die traditionelle Schlussfrage: „Ist das noch Jazz?“ will beantwortet sein mit einem entschiedenen: „Ist doch schnuppe.“


Die Musikerinnen:

Anthony Braxton’s Sonic Genome (Deutschlandpremiere)

  • Anthony Braxton, James Fei & Chris Jonas conductors
  • Kyoko Kitamura vocals / Anne Rhodes vocals /Georgina Darvidis vocals / Cymin Samawatie vocals / Defne Sahin vocals / Cansu Tanrikulu vocals / Dora Osterloh vocals
  • Jean Cook violin / Lizzy Welsh violin / Fabiana Striffler violin / Erica Dicker violin, baritone violin / Gregoire Simon violin / Jessica Pavone viola / Anil Eraslan cello / Isabelle Klemt cello / Judith Hamann cello / Chris Dahlgren double bass, viola da gamba / Jacques Emery double bass /Antonio Borghini double bass / Ralf Schwarz double bass
  • Aviva Endean clarinet, flute / Sabine Vogel flutes / Vincent Bababoutilabo flutes / Susanne Fröhlich bass recorder flute / Tilmann Dehnhard flutes / Mona Matbou Riahi clarinet / Anat Cohavi clarinet / Michael Thieke clarinet / Milian Vogel bass clarinet / Davide Lorenzon clarinet, sax / Viktor Wolf clarinet, sax / Ingrid Laubrock saxes / Andrew Raffo Dewa rsaxes / Paul Berberich sax / Daniel Glatzel sax / André Vida baritone sax / Sara Schoenbeck bassoon / Katie Young bassoon
  • Peter Knight trumpet / Brad Henkel trumpet / Johannes Böhmer trumpet / Magnus Schriefl trumpet / Till Künkler trombone / Matthias Müller trombone / James Macauley trombone / Hilary Jeffery trombone / Robin Hayward tuba / Dan Peck tuba
  • Naoko Kikuchi koto / Bassem Alkhouri kanun / Mahan Mirarab oud, guitar / Kalle Zeier e-guitar / Julia Wacker harp / Adam Matlock accordion / Alexander Hawkins piano, melodica / Niko Meinhold piano / Maria Schneider vibraphone, percussions

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