Aus dem Dunkel klopft es laut fordernd – „macht mir Platz, ich komme rein!“ Knarzend stiefelt Erika Stucky im abgedunkelten Saal des Leeren Beutel vorne an der Bühne vorbei zum Garderobenständer, dabei mit einem Schaufelstiel auf dem Steinfußboden trommelnd. Dort angekommen beginnt sie mit tänzerischem Schwung leere Kleiderbügel rauszureißen und hinter sich zu werfen. Ein trotziges Kind, das lustvoll provoziert und sich zugleich von schmerzenden Zwängen befreit. Dabei stößt sie gellende Rufe aus.
„Stucky con carne“ nennt die schweizerische Sängerin, Performerin und Multimedia-Künstlerin ihr Programm, mit welchem sie beim Jazzclub im Leeren Beutel gastierte – und dafür begeistert gefeiert wurde. Dabei ist das Thema, welches „die Meisterin im Brechen von Traditionen“ mit Schlagwerker FM Einheit, dem prächtigen Holzbläser Steffen Schorn und dem vielseitigen Ben Jeger am Keyboard und an der Glasharfe inszenierte, keine leichte Kost. Servierte sie doch mit Videos und Klangcollagen, düsteren Lichtstimmungen und szenischen Auftritten, Popsongs und Jodeleinlagen dem Publikum eine latent bedrohliche „Metzgete“, eine Schlachtplatte wie es im Alemannischen heißt, die keineswegs nur Leichtverdauliches enthielt.
Papi-Tochter-Programm
In diesem Papi-Tochter-Programm, wie Stucky es vorstellt, seinen viele „daddy issues“ enthalten. „Hush little baby, my sweet girl…“ klingt dann gleich so zwiespältig, mehrdeutig, dass einem der Atem stocken könnte, vor allem als im Hintergrund auch noch Barbiepuppen über die Leinwand gleiten. „Watch me daddy“, nimmt die Sängerin mit süßer Mädchenstimme die Antwort gleich mit in den Song auf. ,Du sagst‘, singt sie im nächsten Song, ,du hast mich vom ersten Moment an geliebt, als du mich gesehen hast. Aber ich weiß nicht, wie du mich wirklich gesehen hast’. Es gehe, erzählt Stucky zwischen einigen Stücken, um die Geschichte ihrer Familie, beginnend mit der Auswanderung des Großvaters in die Vereinigten Staaten. Das war Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Vater habe später Metzger gelernt und neben der Metzgerschürze, die alle Musiker tragen, knetet und drücken Hände in einem Video das Herz eines Schlachttieres. Stucky mahnt dazu mit weicher Stimme, man müsse davor nicht zurückschaudern, es sei ein gutes Organ. Auch wenn man gewillt ist, die musikalische Performance als eine solche zu sehen, als feministisch-künstlerische Auseinandersetzung mit einem gesellschaftlich relevanten, meist verdrängten Thema, wird einem manchmal ganz schön mulmig. Auch verschiedene Details, wie die mehrere Schichten Kleidung, die Stucky drängt, ihre Modulationen in der Stimme oder wenn sie wie ein spielendes Kind am Boden sitzt, erscheinen einerseits wie grell leuchtende Warnbojen, andererseits ein wenig verrätselt wenigstens – mehrdeutig.
Faszinierende musikalische Welt
Vom Beatlesklassiker „I want you“ über Michael Jacksons Hit „Bad“ bis zum Evergreen „Cheek to cheek“ als Zugabe zieht das Thema musikalisch Spuren. In komplexen Arrangements mit perkussiv-hämmernden Sounds von einer von der Decke hängenden Metallspirale, an der FM Einheit herumbohrt, sägt und feilt, gewinnen die Songs ihre Mehrdeutigkeit durch Stuckys mal verführerische, verletzliche oder auftrumpfende Interpretation. Es ist ein hochdramatisches, mit Witz und weiblicher Chuzpe gespicktes Spektakel bei dem sich Stucky von Volksmusik über Pop und schräger Performance bis zu Soundexperimenten und Improvisation schamlos an allem bedient, was ihr zur Verfügung steht. FM Einheit, ehemals Schlagwerker der „Einstürzende Neubauten“ sorgt mit einem eigenwilligen Instrumentarium über einen faszinierenden Geräuschteppich. Darauf können Erika Stucky und ihre Mitmusiker eine faszinierende musikalische Welt ausbreiten. Neu dazu gestossen ist Saxophonist Steffen Schorn, einer der herausragenden Meister der deutschen Jazzszene. Der Berner Ben Jeger ersetzt mit seiner poetisch-zarten Glasharfe den Part, den zuvor Countertenor Andreas Scholl ausgefüllt hat. Einmalig in der Jazzszene, in welcher politisch oder gesellschaftlich bedeutsame Themen höchst selten eine Rolle spielen – weil man(n) sich eh als Minorität sieht, die kaum wahrgenommen wird und jeden Millimeter Anerkennung heftig buhlen muss.
Info
Erika Stucky – Stimme, Akkordeon, Film
Steffen Schorn – Reeds
Ben Jeger – Glasharfe
FM Einheit – Perkussion, Sounds, Electronics