Der Gitarrist András Párniczky veröffentlichte mit »Bartók Electrified« eine bemerkenswerte Jazz-Interpretation von Musik des Klassikers der Moderne
Die Sache hat doch zwei Seiten. Mindestens. Die eine ist: Was verstand Béla Bartók unter Jazz? Und die andere: Welche Rolle spielt die Musik Bartóks für den Jazz?
»Jazz ist eine sehr interessante Musik, deren Rhythmus und Struktur wie die Volksmusik allgemein sehr faszinierend ist. Ich bin jedoch etwas beunruhigt über die einfache harmonische Struktur …«, soll Béla Bartók im Jahre 1926 gesagt haben. Allerdings konnte der 1945 verstorbene Ungar eigentlich nur Oldtime Jazz und Swing gekannt haben; all die interessanten und komplexen Jazz-Entwicklungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mussten ihm zwangsläufig unbekannt bleiben – anders als in den Fällen heutiger Hörer auf der Suche nach dem Verhältnis zwischen Bartók und Jazz.
Die Offenheit Bartóks für den damaligen Jazz führte lediglich zu einem Werk mit Jazz-Touch, das der Ungar komponiert hat. Auf Bitten des Klarinettisten hatte Béla Bartók im Jahre 1940 für Benny Goodman mit »Contrasts« ein Kammermusikstück für Klarinette, Piano und Violine geschrieben. Erstmals aufgenommen wurde diese Komposition mit Béla Bartók selbst (Klavier), Benny Goodman (Klarinette) und Joseph Szigeti (Violine) am 13. Mai 1940. Es ist einleuchtend, dass der Jazzcharakter dieses Stückes am ehesten noch bei den Klarinetten-Passagen erlebbar wird, die im Teil 1 (»Recruiting Dance«) atmosphärisch so wirken, als hätte man die Eingangsidee von Gershwins »Rhapsodie in Blue« zusammen mit Prokofjews »Peter und der Wolf« in etwas Neues, Eigenes verdichtet.
Musiker des modernen und zeitgenössischen Jazz dagegen haben immer wieder Bartók-Kompositionen gespielt, Bearbeitungen geschaffen oder Bartók-Musik als Anregung für eigene Kompositionen genutzt – als Beispiele seien Chick Corea, Keith Jarrett oder Lee Konitz genannt. Natürlich müssen in besonderer Weise an dieser Stelle die ungarischen Musiker György Szabados, Károly Binder und Kálmán Oláh hervorgehoben werden, deren Musik ohne Bartók nicht denkbar wäre.
Nun kommt doch noch eine dritte Seite ins Spiel: Im Jahr 2015, siebzig Jahre nach dem Tod des Komponisten, lief das Schutzrecht für Bartók-Kompositionen aus. Nun konnte jeder Musiker auf der Basis von Bartóks Werken seine eigenen musikalischen Visionen ohne extra Genehmigung des Rechteinhabers erschaffen. Damit schlug die Stunde auch des Gitarristen András Párniczky, dessen von Bartók angeregte Musik hier nun unter dem Titel »Bartók Electrified« auf CD vorliegt. Die Scheibe enthält sechs Bearbeitungen von Stücken aus Bartóks berühmtem klavierpädagogischem Zyklus »Mikrokosmos« sowie des 3. Satzes (»Fast Dance«) des weiter oben benannten Goodman-Auftragsstückes »Contrasts« und zwei (»Bear Dance«, »Frustration«) der zehn »Easy Pieces« für Piano, die Bartók bereits 1908 geschrieben hatte. Dazu kommt noch eine Neu-Interpretationen eines Volksliedes, das Bartók gesammelt und arrangiert hatte (»The wheat will be ripe«).
Macht man sich die Mühe des Vergleichens, wird nicht nur klar, wie konzentriert, markant und essenziell die Originale sind, sondern vor allem durch die Kreationen Párniczkys auch, welches Potenzial in ihnen steckt. Párniczky entwickelt die kleinen Stücke weiter, schafft Musik-Gestaltungen, die es zu Bartóks Zeiten noch nicht geben konnte – wuchtig Rockartiges, zügellos wirkende Freejazz-Improvisationen, warme Elektroklänge, lyrische Klanglandschaften. So wurde aus der spröden Etüde »Thumbs Under« bei Párniczky ein nachdenklich wirkendes, sound-orientiertes Nachtstück, bei dem sich erst im Laufe der Zeit die Grundidee herausschält, die dann von einer Saxofon-Improvisation umschmeichelt wird. Und aus der kurzen, rasanten rhythmischen Fingerübung »Bulgarian Rhythm« entwickelt Párniczky ein rhythmisch vertracktes, agiles, sehr vorwärtsdrängendes Stück, getragen von der Kraft des Jazzrocks und gekrönt durch Párniczkys raffiniertes, sperriges Gitarren-Solo. Ähnliches kann man über all die anderen Titel auf dieser Párniczky-CD sagen, die für jeden Hörer mit offenen Ohren und neugieriger Einstellung ein Frischluft-Erlebnis erster Güte sein kann. Und beim 3. Satz der von Bartók für Benny Goodman geschriebenen Komposition »Contrasts«, »Fast Dance«, greift Párniczky die überschäumende Ästhetik und das Tempo von Violine, Klavier und Klarinette des Originals auf und transponiert diese in einen wilden, zügigen straight-ahead-Jazz, der schließlich in ein Drum-Solo mündet – eine Musik wie aus einem Guss!
András Párniczky gehört zu jener großen Zahl von Musikern, die bereits seit Längerem und gemeinsam mit den besten, ebenbürtigen Mitspielern auf der Szene weltweit aktiv, die jedoch vom Namen her noch nicht allzu bekannt sind. Dabei ist der Gitarrist längst mit allen internationalen und nationalen Wassern gewaschen. Geboren 1972 im schweizerischen Genf, studierte er ab 1991 im American Institute of Music in Wien, danach in Budapest und in Den Haag in Holland. Seit 1990 ist er auf Festivals und Klubs in nahezu aller Welt unterwegs – in England, Österreich, Belgien, Frankreich, Griechenland, Deutschland, Italien, in den USA und einigen weiteren Staaten. Auf der Bühne stand er mit Don Byron, Steven Bernstein, Matt Darriau, Aaron Alexander und vielen Größen aus der New-Klezmer-Szene. Unter John Zorns Leitung führte er mit vielen weiteren Musikern in Budapest Zorns »Cobra« auf. Im Jahre 2001 gründete er seine eigene Band Nigun, die eine Synthese von osteuropäischer jüdischer Musik und modernem Jazz spielt.
Da ist »Bartók Electrified« eine folgerichtige, großartige Fortsetzung – hinein in die Welt eines Großen der Musik-Moderne.
Mathias Bäumel
Párniczky Quartet: »Bartók Electrified«, BMC Records CD 260