Mit der ausgefransten Metapher „wie Sand am Meer“ könnte man einen Fotoband über die Weltmetropole New York City schnell abhaken und beiseite legen. Dann schreibt der Autor, der Bremer Musikproduzent und Verleger Ulrich Balß, auch noch, dass sich „das Buch maßgeblich von den vielen New-York-Büchern unterscheidet“. Sagt doch jeder, mag man denken, und beraubt sich damit vielleicht einer überraschenden Entdeckung und einer exemplarischen Familiengeschichte, die sich über drei Generationen erstreckt.
„New York – Past & Present“ ist zweisprachig gehalten und grenzt damit das Vergleichsangebot schon deutlich ein. Es enthält Aufnahmen von einem historischen New York des Jahres 1928 und aktuelle Bilder. Eine weitere Eingrenzung. Bei den Texten greift es auf Briefe und Aufzeichnungen des Leipziger Buchbinders Theodor Trampler zurück, der 15 Monate in New York lebte, um seine Familie in Deutschland durchzubringen. Und nicht zuletzt liegt dem querformatig gehaltenen Foto-Brief-Tagebuch-Band noch eine Musik-CD bei, die Songs von 1928 bis heute umfasst, interpretiert von New Yorker Musiker/-innen. Zusammen genommen widerlegen alleine die Fakten jeden Anflug von Skepsis einem „alten Wein in neuem Schlauch“ aufzusitzen, um eine weitere Metapher ins Spiel zu bringen.
Tatsächlich ist das Fotobuch einzigartig, lässt es doch durch die Briefe – Balß belegte extra einen Kurs, um die Sütterlin-Schrift lesen zu können – Tramplers an seine Familie und Freunde die sozialen Verhältnisse der Zeit vor 90 Jahren aufleben. Eifrig beschreibt er die Überfahrt auf der „Berlin“ mit dem Norddeutschen Lloyd, erzählt von der Ankunft, der Arbeit, der Bezahlung und den Lebensbedingungen. Ebenso eifrig zeigen seine vielen Fotos, die gut gesichert den späteren Krieg überlebt haben und bis zum Enkel vererbt worden sind, Stadtansichten, Menschen, Straßenszenen und Gebäude. Trampler war begeisterter Fotograf und hatte ein gutes Auge für Gestaltung und Momente. Die Bilder weisen eine erstaunliche Qualität und Detailgenauigkeit auf, fangen die Lebensumstände der Zeit in Paraden, Arbeitssituationen und Ansichten so ein, dass Geschichten daraus entstehen. Viele Bilder beginnen zu erzählen. Immer wieder stellt Balß, der Enkel des Leipzigers Emigranten, den alten Aufnahmen aktuelle Bilder gegenüber, ermuntert zu Vergleichen und zeigt auf, wie sich die Stadt verändert hat. Dazu ist er eigens noch einmal nach New York gereist und hat die gleichen Schauplätze aufgesucht wie sein Großvater.
Durch seine Tätigkeit als Musikproduzent (Balß betreibt seit rund vier Jahrzehnten das Label Jaro Records/Medien) ist er mit vielen New Yorker Musiker/-innen bekannt und konnte einige gewinnen, um Musiktitel für die beiliegende CD beizusteuern. Das Sammelalbum ist Ausdruck des Schmelztiegels New York, was sich auch in der Auswahl der Stücke spiegelt, die bereits in den 20er Jahren entstanden sind. Neu interpretiert von den Musikern der vitalen Band Hazmat Modine um Wade Schuman, der Multiinstrumentalistin Rachelle Garniez, des A-capella-Quartetts „The meta Four“, der Saxofonistin Steve Elson (Co-Founder of Slickaphonics) und von Joseph Daley erweitern die Songs das Buch gewissermaßen zum Gesamtkunstwerk. Entertainerin Garniez hat sogar zwei Hits aus den Jahren 1928 und 1929 eigens für das Projekt exklusiv eingespielt. Nach dem ersten „Past & Present“-Fotobuch von Balß zu Lissabon – „Lisboa“ – bietet auch „New York“ einen subjektiven und dabei hochinteressanten Einblick in das Leben der – ärmeren – Menschen vor 90 Jahren. Unbedingt empfehlenswert.
Ulrich Balß: New York – Past & Present, Jaro Medien GmbH, Bremen 2018, ISBN 978-3-9813509-2-0
Von Michael Scheiner