Moleküle hört sich natürlich besser an, als Entrümpelung. Bevor Sophie Hunger aber daran gegangen ist, ihr neues Album „Molecules“ aufzunehmen, hat sie ganz viel entrümpelt. Vielleicht entrümpeln müssen, denn bei der Schweizerin hatte man schon bislang den Eindruck, sie lässt Bekanntes gern zurück und setzt sich neu zusammen. Das Unerwartete, Überraschende, manchmal auch Ungewöhnliche als konzeptioneller Gegenentwurf zum Vorhersehbaren.
Nach dem erfolgreichen, folkig-jazzigen „Supermoon“ unternimmt sie mit ihrem sechsten Studioalbum einen besonders gründlichen Schnitt. Ohne Wehmut hat sie herkömmliche Instrumente über Bord geworfen und dafür Synthesizer, Drumcomputer und digitale Klänge in ihre Musik geholt. „Minimal electronic folk“ bezeichnet sie die pochenden Grooves und coolen Klänge, aus welchen sich ihre bildhaft-lyrischen Songs zusammensetzen. Erstmals singt sie zudem ausschließlich auf Englisch, lässt die anderen Sprachen hinter sich. „Ich wusste immer, dass es mit dem Sprachenmix nicht ganz koscher ist“, begründet sie ein wenig fadenscheinig ihre Entscheidung für den internationalen Markt. Nicht zuletzt ist „Molecules“ ihr persönlichstes Album. Denn neben den politischen Minen, die überall explodieren, ist auch ihre eigene Welt auseinander geflogen. Eine Welt in Aufruhr. Dieser rückt Hunger mit oft scharfkantig assoziativer Sprache, eigenwilligen Gedankenketten und sanglicher Wehmut auf den Leib. Geblieben ist die melancholisch-trotzige Stimmung, in welcher ihre Balladen und Songs wie in einem glitzernden Gespinst taubenetzter Fäden hängen. Hell entrückt und zugleich entschieden lässt sie mit ihrer schönen Stimme Hörwillige an diesen emotionalen Achterbahnen teilnehmen.
Manchmal fühlt man sich dabei wie in einem Raumschiff Orion. Das vorwärtspreschende „Tricks“ vermittelt einen solchen Flashback, der wie eine musikalische Reminiszenz an die zukunftsgläubigen 60er Jahre klingt. Textlich dagegen hält Hunger steil dagegen. Scheinbar unbeschwert bohrt sie nach: „Was machst du, wenn alle deine Träume in Erfüllung gegangen sind?“ Das, nachdem sie zuvor aufgezählt hat, wie sich korrupte Macher überall bereichern – und andere dabei verscheißern. Es ist diese seltsame Mischung aus klanglicher Zärtlichkeit bis hin zu kindlich-zarten Gute-Nacht-Glöckchen und poetisch-schwerem Grollen, das sich darüber düster auftürmt. In dieser scheinbaren Widersprüchlichkeit liegt ein Gutteil der Spannung und Anziehungskraft der vielschichtigen Musik Hungers begründet. Mit ihrem Schwenk in die elektronische Ebene, in Teilen sogar durchaus clubtauglich, wird die großartige Songschreiberin sicher die eine oder den anderen Fan verschrecken. Mit ihren intelligenten Texten, die sich unerschrocken und bärenstark an der zersplitterten Gegenwart reiben, ohne auch nur in die Nähe eines Jargons zu geraten, geht sie wie einst Bob Dylan Risiken ein. „Ich wollte ein Vokabular haben, das die materielle Wirklichkeit meiner Welt widerspiegelt“, erklärte sie in einem Interview, und dazu gehören heute Stoffe wie Insulin, Nitroglyzerin, Plastik und Zelluloid. Eingebettet in diese melancholische Stimmung durchziehen sie wie Widerhaken ihre Songs, die sich auf eine Weise mit Feminismus, Korruption und die grassierende Ignoranz beschäftigen, der man gern und neugierig folgt. Dazu etwas Selbstironie, wie in „I Opened A Bar“, eine absolut coole Hymne an Berlin – Electropolis – die Spuren bis in die graue Vorzeit zur NDW aufweist, was will man mehr. Pop auf der Höhe der Zeit, silbrigglänzend, stellar und gleichzeitig ziemlich pragmatisch.
Infos: Sophie Hunger, Molecules, ca. 13 Euro (Vinyl 20 Euro), Streaming Formate, Caroline International/Universal Music
Text: Michael Schreiner