Die Frage ist natürlich etwas provozierend gestellt. Ein bisschen anbiedernd an den kulturkritischen Zeitgeist auch. Eigentlich ist es sogar eine dumme Frage, die man gar nicht beantworten mag, wenn man noch ganz bei Trost ist. Weder in die eine noch die andere Richtung.
Denn: Es gibt natürlich Jazz in Deutschland, man muss nicht allein die Tatsachen aufzählen, dass es Jazzmusikerinnen gibt, Jazzfestivals, JazzZeitschriften oder -Zeitungen, Jazzsendungen im Radio, Jazzausbildungen an Musikschulen und Musikhochschulen, Musikclubs und Plattenlabels, die mit Jazz handeln. Der Jazz ist präsent. Warum ich die Frage dennoch stelle?
All die genannten Jazzpräsenzen könnten wirken als ein durch und durch abgeschlossener Bereich, in dem alles klar ist, der außerhalb dieses Bereiches aber nur wenig Wahrnehmung erfährt. Darin steht der Jazz nicht allein. Das kann man von zahlreichen Kulturbereichen ähnlich sagen.
Jazz und Wikipedia
Unter einem speziellen Blickwinkel unterscheidet sich aber der Jazz in Deutschland von anderen Musikgenres. In dem kleinen Bereich der allgemein lexikalischen Durchdringung. Es geht also um eine Art lexikalischen Jazzexport über Wikipedia.
Schaut man beispielsweise danach wieweit Jazz in Wikipedia-Artikeln zum Thema „deutsche Kultur“ (englisch, deutsch, italienisch, türkisch) thematisiert wird, ist das Bild ernüchternd. Nicht einmal in der deutschen Wikipedia (Stand 25.5.2018) wird Jazz erwähnt. Da haben es die französischsprachigen Leserinnen tatsächlich besser. Wikipedia (französisch):
„L’Allemagne compte des musiciens de jazz de renommée internationale : Gebhard Ullmann, Peter Brötzmann, Günter Sommer, le tromboniste Albert Mangelsdorff, l’organiste Barbara Dennerlein et le groupe de Klaus Doldinger. Les festivals de jazz de Francfort (mars), Stuttgart (avril) et Berlin (octobre) attirent les foules. Sans oublier le petit, mais courageux festival de Moers, où l’avant-garde du jazz mondial se donne rendez-vous tous les ans à la Pentecôte, depuis 1972.“
Man mag wegen der Auswahl der Musikerinnen etwas staunen (in der einen wie der anderen Richtungen), aber immerhin handelt e sich doch um nicht ganz unbedeutende Musikerinnen im deutschsprachigen Raum. Und immerhin wird da etwas wahrgenommen, was im deutschsprachigen Artikel zum selben Thema vollkommen fehlt.
Jazz in der deutschsprachigen Wikipedia
Doch selbst um die deutschsprachigen Artikel ist es nicht besonders gut bestellt, wenn sie sich konkret mit Jazz beschäftigen. Da liest man im Artikel Jazz in Deutschland:
„Obwohl es heutzutage viel mehr Jazzmusiker in Deutschland gibt als in den 1960er und 1970er Jahren, wird es dem Publikum durch die elektronischen Medien erleichtert, sich ein eigenes Meinungsbild von den Jazzmusikern und ihrer Musik zu machen. Traditionelle Meinungsmacher wie z. B. die Jazzredaktionen der öffentlichen Rundfunkanstalten verlieren dadurch an Einfluss. Auch Veranstalter und Konzertagenturen gestalten nicht mehr die Geschmacksrichtung des Publikums, wie in der Vergangenheit, sondern folgen nur noch den aktuellen Trends. In welche Richtung der deutsche Jazz sich in Zukunft deshalb bewegen wird bleibt unklar.“
Klar, man kann sich fragen, ob lexikalische Artikel überhaupt geeignet sind, auch derlei wertende Aussagen über die Zukunft des Jazz in Deutschland zu treffen. Kann sich die „Jazzgemeinde“ mit Texten wie in dem Artikel Jazzmusiker in Deutschland einverstanden erklären?
„Der Jazz – das wichtigste Kulturgut Amerikas – wird bei uns zwar geachtet und bewundert, konnte aber weder seinen „Exoten-Status“ ablegen, noch sich als gleichberechtigter Partner von Theater, Literatur, Film, Malerei durchsetzen. Noch immer geht der größte Teil, der für den Jazz in Deutschland zur Verfügung gestellten freien finanziellen Mittel (Festivals, Konzerte) an Musiker aus den USA, deren Vorherrschaft auch bis heute nicht von den europäischen oder deutschen Musikern in Frage gestellt werden konnte (so sehr das Niveau der deutschen Jazzmusiker auch gestiegen ist).“
Eine gewisse Tendenziösität kann man nicht überlesen. Ob es um die Vorherrschaft der amerikanischen Musikerinnen geht. Eine eigenartige Bestimmung des Niveaus von Jazzmusikerinnen oder das an-die-Seitestellen von ganzen Kunstbereichen wie Theater, Film, Malerei und Literatur. Alles ein bisschen wirr. Aber so kann es einer unbedarften Leserin bei der Suche im Netz gegenübertreten. Kann man das wollen, oder sollte man da nicht mal was korrigieren. Und wenn, wer wollte das machen?
Als Feld der Sichtbarmachung des umfangreichen Jazzlebens in Deutschland wurde mindestens die Wikipedia noch nicht so richtig entdeckt und genutzt. Wäre das nicht etwas für die UdJ als Betätigungsfeld – und sei es, um da mal jemanden mit, möglicherweise, Fördergeldern aus Initiative Musik etc. damit zu beauftragen? Denn die Wikipedia, das ist keine Neuigkeit, ist schließlich häufig eine erste Anlaufstelle für viele, um sich erste Informationen zu besorgen.
Der Jazz gehört auch zu Deutschland, aber keiner bekommt es draußen so richtig mit, wenn man der Wikipedia Glauben schenken mag. Da muss man sich auch nicht so sehr wundern, wenn in der fachfremden Publizistik beispielsweise Kamasi Washington als Reanimateur des Jazz beworben wird. Vielleicht ist das auch nur ein Sommerlochthema.
Ja, so etwas ist bitter.
Auch hier zeigt die Wikipedia zumindest eine nur temporäres Ereignis. Kamasi kommt, Kamasi wird gehen. Der vermeintliche Retter macht sich bald wieder aus dem Staub.
Zurück zum Thema. Natürlich darf man die Wikipedia auch nicht überbewerten. An Stellen, wo es auch andernorts gescheite Informationen gibt, sind lexikalische Artikel sowieso nicht mehr als Anhaltspunkte. Folgende Übersicht über die Abrufzahlen von bestimmten Artikeln in der Wikipedia ist einerseits ernüchternd, aber eben auch nicht repräsentativ für die Nützlichkeit der Artikel.
Portal:Jazz in der deutschen Wikipedia
Man darf natürlich das Portal: Jazz in der Wikipedia nicht vergessen, das sich mit 14.350 Artikeln schmückt. Zudem hat es hat durchaus mehr Zugriffe als die anderen Einzelseiten. Gleichwohl sind die Lücken und eigenartigen Schwerpunktsetzungen nicht zu übersehen. Das will ich aber gar nicht ankreiden, die Einträge sind so gut wie die Autorinnen, die sie verfassen. Wer also da mitmachen möchte, so kompliziert ist es nicht. Das Lexikonartikelverfassen hat aber eben auch wenig zu tun mit Jazzmachen oder hören, liegt also nicht allen. Die Profis schreiben halt selbst Bücher.
Ein Wikipedia-Artikel über die Kultur einer Nation oder eines Sprachraums ist natürlich im Umfang limitiert, daher wird im Kapitel Musik auch zuallererst auf den Hauptartikel „Musik in Deutschland“ verwiesen, in dem Jazz sehr wohl genannt wird (hier wiederum erfolgt der Verweis auf den Hauptartikel „Jazz in Deutschland“).
Davon abgesehen offenbart der erstgenannte Artikel Lücken im Bereich „populäre Musik“ und klammert u.a. die Epoche(n) aus, in der amerikanischer Jazz nach Deutschland gelangte und die deutsche Jazztradition initiierte. Jetzt bin ich kein studierter Musikwissenschaftler, und wenn es so leicht ist, Wikipedia-Artikel zu verfassen, dann sollte doch vielleicht ein Solcher diese Lücke sachkundig schließen.
Natürlich ist das limitiert. Der Anlass der „Untersuchung“ hier lag in der Überraschung darüber, dass der Artikel „Kultur in Deutschland“ der zweitmeistbearbeitete Artikel der deutschen Wikipedia ist. https://de.wikipedia.org/wiki/Spezial:Meistbearbeitete_Seiten Interessant war deshalb, dass Jazz nicht drin vorkam, eben anders als in der franz. Wikipedia, wo Jazz erwähnt wird.
Das war für mich zumindest eine Indiz dafür, wie hierzulande in solch einem Rahmen „Jazz“ als Bestandteil der deutschen Kultur intern wahrgenommen wird. Dagegen könnte man allerdings einwenden, dass aus französischer Sicht Jazz Bestandteil der deutschen Kultur ist, aber nicht (parallel) der französischen (wo eben Jazz dann wieder nicht auftaucht). Es sind wohl die besonderen Vorlieben der jeweiligen Autorinnen.
Bei Wikipedia schreibt jeder über das was ihn interessiert. Also sind hier die Jazzfreunde gefordert, entsprechende Artikel zu schreiben oder aus anderen Sprachversionen zu übertragen. Dabei sollte es aber kein Fanartikel werden, sondern seriöse Quellen genannt werden.
Und für viele Musiker bräuchten wir auch frei publizierbare Bilder. Vielleicht sprecht ihr mal Musiker darauf an, ob ihr in einer Pause mal fotografieren könnte. Während der Darbietung stört das nur und es kommt nichts dabei raus (jedenfalls mit normaler Ausrüstung).