CD-Rezension: Amy Denio – The Big Embrace

Verkürzt auf das einprägsame „Tiptons“ tourt die in Seattle ansässige Saxofonistin Amy Denio seit über drei Jahrzehnten mit dem „The Billy Tipton Memorial Saxophone Quartet“ durch die Jazzclubs dieser Welt. Eine gute Basis für seinen kräftig jazzhaltigen, genussvollen Cocktail aus Latin, Balkanbeats, Brasilian, Blues und diversen anderen Einflüssen hat das Saxofonquartett mit Schlagzeug in Europa. Daraus wiederum schöpft Denio, die noch diverse andere Instrumente spielt, singt, Songs schreibt und produziert, für ihre Soloarbeit. Ende letzten Jahres hat sie nach längerer Zeit wieder ein Soloalbum – Die Große Umarmung – mit 16 überwiegend neuen Songs und Kompositionen fertiggestellt. Das melodiöse Titelstück „L`Abbraccione“ ist gewissermaßen Programm, Haltung und Spottlust inbegriffen. Nur mit Stimme, Effekten, einer persischen Tombak für einen einfachen, durchgeschlagenen Rhythmus und der kroatischen Langhalslaute Brač erzeugt die Musikerin eine träumerische, nach vielen Seiten offene folkloristische Stimmung. Instrumentalstücke wie „Prostrate for a Periwinkle“ für Akkordon, Klarinette und Rahmentrommel wechseln mit Songs in Singer-Songwriter-Tradition.

Stilistisch weit offen, spielen neben jazzigen und weltmusikalischen Elementen (so unbestimmt und unscharf dieser Begriff auch ist) auch minimalistische Formen, Experimentelles und Improvisation, Collagetechnik und Sampling eine Rolle in Denios faszinierendem und immer wieder überraschendem Klangkosmos. Stimmgeräusche, Rauschen und Sprachfetzen, blubbernde Basslinien und handclapping machen die mal warmherzigen, mal ätzend spottlustigen, dann wieder kritisch hinterfragenden Songs zu einem genuinen Ausdruck eines wahrhaft unabhängigen Geistes. Indie-Music müsste man diese oft einfache, aber stimmungsvolle Musik in Anlehnung an den Indie-Rock nennen. Auf der Folie des Jazz und künstlerisch-ästhetischer Freiheit kann man darin eine zeitgemäße Popmusik voller Poesie und Sinnlichkeit sehen, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Zwei besonders plakative und musikalisch derb-pointierte Beispiele dafür ist das an die CIA adressierte „Donald The Lump“ und das feministische Spottlied „I love this Cunterie“, wo sie mit dem – gesampelten – Präsidenten singt. Auf wenigen Songs wird Amy Denio von befreundeten Musikern wie Hahn Rowe (viola) und Berin Tuzlic (dr) begleitet.

Ausdrucksstarke Amy Denio, hier bei einem Auftritt mit dem Saxophonquartett „Tiptons“. Foto: Michael Scheiner

Neben Kollaborationen mit Fred Frith und Wädi Gysi hat die kreative Freigeistin auch eine Zusammenarbeit mit Musikern wie dem verstorbenen Cellisten Tom Cora, der Minimalistin Pauline Oliveras (acc), dem tschechischen Schlagzeuger Pavel Fajt und dem Rapper Chuck D. in ihrer Vita stehen. Mit ihrer ersten Band „Tone Dogs“ hat sie die Grunge-Szene in Seattle befeuert und mit vorbereitet.  In der medialen Wahrnehmung – und da nimmt sich der Autor keineswegs aus – ist die Leistung dieser so scharfsinnigen, wie musikalisch unabhängigen Künstlerin wenig gewürdigt. Das zeigt sich auch in einschlägigen Nachschlagewerken, wo Amy Denio so gut wie nicht vorkommt. Sie sitzt einfach zwischen zu vielen Stühlen. Da aber sicher und selbstbewusst.

© Michael Scheiner

 Amy Denio, The Big Embrace, Spoot 2017 TBE

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