Beim Festival der Jazzoffensive Essen geht es um alles andere, nur nicht um das risikoscheue Aufpolieren des längst Bekannten und Gefälligen. Entsprechend viel mutige Konsequenz wiederspiegelte die aktuelle Festival-Ausgabe – zumal die künstlerischen Ansätze von Musikern aus der Gegenwart keine Grenzen zu kennen scheinen! Da zelebrieren der Berliner Niko Meinhold und der Amerikener Christopher Williams alles erdenkliche, was eben nicht zum „normalen“ Musizieren Kontrabass und Konzertflügel gehört. Im zarten Miteinander oder Gegeneinander werden zarte, oft geräuschhafte Aspekte ausgekostet – aber auf Anhieb wird klar, dass diese beiden Künstler mit so etwas eine höhere Daseinsebene im Sinn haben. Ja, die gestenhafte Rhetorik, zu der auch Textfragmente und das immer wieder eingestreute Klackern von drei Würfeln gehören, lassen fast so etwas wie ein imaginäres absurdes Theaterstück assoziieren. Niko Meinhold greift auf einschlägige Quellen zurück für solche Performance-Kunst: So partizipiert er regelmäßig im westafrikanischen Gabun an nur scheinbar archaischen, aber im Kern doch hochkomplexen Meditationsritualen. Sie bestätigen einmal mehr das, was auch Albert Schweitzer an diesem Ort erfuhr und weitergab: Musik als Kraftquelle, die Humanität spendet. So etwas übersetzen Niko Meinhold und Christopher Williams in ein eigenwilliges, subtiles Spiel mit Gesten, Klängen und manchmal auch Worten. Die Erkenntnis: Das „normale“ Bewusstsein greift meist nur auf einen verschwindend geringen Teil sämtlicher potenziell vorhandener Ressourcen zurück – auch beim Erzeugen und Erleben von Musik.
Ein anderer arbeitet sich kurzweilig vor allem an den digitalen und analogen Geräuschwelten der alltäglichen Umgebung ab: Achim Zepezauers „Tischlein Elektrisch“ ist eine bunte Spielwiese aus Alltagsgegenständen, unter anderem analoge Casettenwalkmen und Analogplattenspieler. Das ist gut für assoziative Soundcollagen, die zwar nicht mehr unbedingt den neuesten State of the Art repräsentierten, aber doch mit allerhand unterhaltsamen Gimmicks aufgepeppt sind – vor allem mit einer kleinen Märchenrezitation aus der Tierwelt.
Schließlich tritt einer der künstlerischen Leiter, der Saxofonist Christian Ugurel mit einer eigenen Band ins Rampenlicht. Die hat er bei einem mehrjährigen Studienaufenthalt in Barcelona lieb gewonnen und kreativ mitgestaltet. Spürbar ist, dass im Spiel der vier auch viele Erinnerungen an ausgelassenes inspirierendes Miteinander leben. Was er, zusammen mit zwei Gitarristen und dem Schlagzeuger Jorge Rossy aufbietet, sprüht vor gelebter musikalische Fantasie und tiefer Empfindung. Zwei, sich kraftvoll „duellierende“ elektrische Gitarren liefern das Fundament, dazwischen verschaltet der Schlagzeuger Jorge Rossy die Prozesse, während sich Christian Ugurel als empfindsamer Melodiker im Zentrum zeigt. Aufregende Spannung entsteht durch raffinierte Rubato-Effekte in der Rhythmik – und es standen die Klangfarbenmelodien eines Olivier Messiaen oder die Breitwandpanoramen eines Richard Strauss Pate.
Ein Bandleader, der seine Musik als subversives Statement gegen die hohle Gefälligkeit auffasst, ist der Berliner Oliver Steidle – dabei steht hinter allem Freigeist eine maximale Disziplin, die er auch von seinen Mitspielern in der Band „Killing Popes“ einfordert. Akrobatisch, rasend schnell und sich überschlagend sind die Rhythmen, die gegeneinander laufen, sich überkreuzen, zersplittert werden. Klangeruptionen von Elektronik und Gitarren reagieren miteinander, dass es glüht und überkocht. Aber bei den „Killing Popes“ ist jede Note bis ins letzte auskomponiert – dieses offene Geheimnis steht hinter der akrobatischen Präzision dieser Band, die dem JOE-Festival einen grandiosen Abschluss bescherte. Vor allem: Die Päpste, die hier gekillt werden sollen (was eben als freche Attacke auf alle musikalischen Dogmatiker gemeint ist), werden vor allem durch eine Wunderwaffe zur Strecke gebracht – nämlich durch Humor. Beziehungsweise bei diesem Konzert durch ein permanentes Dauerfeuer in Sachen humorvoller Brechung….
Stefan Pieper