„Sechzehntelnoten machen mich an“
Ein Energiebündel am Klavier. Und ein Musiker, der auch malt. Joachim Kühns Ausstellung „Schönheit und Wahrheit“ in Hamburg
Sie heißen „Ansicht“, „Zeichen“ oder „Noten Landschaft“, leuchten dem Betrachter in kräftigen Farben entgegen und haben sichtbar mit Musik zu tun: Gemälde von dem Jazzpianisten Joachim Kühn, zurzeit zu sehen (noch bis 21. Mai) in der „Fabrik der Künste“ in Hamburg. Manche reichen vom Boden bis zur Decke und sind mehrere Meter breit, manche haben das eher handliche Format einer aufgeklappten großen Tageszeitung. Mit der energiegeladenen Musik von Kühn und Anmerkungen zu seinen Bildern wurde die Ausstellung mit dem Titel „Schönheit und Wahrheit“ – inspiriert von einem Stück des von Joachim Kühn verehrten Saxophonisten Ornette Coleman, „Beauty and Truth“ – jetzt eröffnet.
Auf zwei Etagen in den großen, lichten Räumen des Ausstellungsortes in einer ehemaligen Lagerhalle im Hamburger Industriegebiet Hamm-Süd sind die Exponate zu sehen, mit viel Luft gehängt, damit sich die Farben und die Notenwirbel auf den Bildern nicht gegenseitig neutralisieren. Oben, vor einem großformatigen Bild in strahlendem Gelb mit vielen Noten, die wie kleine mystische Figuren auf der Farbfläche zu tanzen scheinen, steht ein Flügel auf einem Podium. Der Flügel spielt auch während der Ausstellung, wenn der Musiker selbst wieder abgereist ist. Denn es ist ein hochtechnisiertes Selbstspielmodell eines sehr bekannten Klavierherstellers, für das Joachim Kühn vor einigen Wochen in Hamburg Musik aufgezeichnet hat. Per Computer ist das Instrument in Gang zu setzen, und man kann zuschauen, wie sich die Tasten gleichsam selbst drücken.
Seit er in den frühen 1990er Jahren auf die Balearen-Insel Ibiza zog, malt Joachim Kühn. Das Licht dort habe ihn inspiriert, sagt er. Morgens fängt er oft auf seiner Terrasse an, an einem Bild zu arbeiten, und wenn dann die Farben trocknen, geht er nach drinnen, um am Klavier zu üben. Den Anstoß gab einst sein Musikerkollege Daniel Humair. Der Schlagzeuger ist seit Jahrzehnten auch bildender Künstler, ein absolut ernsthafter Gestalter von Gemälden mit magisch-farbkräftigen Formen und Flächen. Immer nur Musik, das sei doch nichts, soll Humair einst zu Kühn gesagt haben, als der noch in derselben Stadt wohnte wie Humair, in Paris. Humair weckte Kühns Interesse an Bildern. Der Pianist kaufte Kunst. Und dann, einige Zeit später auf Ibiza, begann er auch selbst, Leinwände zu bemalen.
Was sofort auffällt: Noten überall. Große, kleine, liegende, hüpfende, Sechzehntelketten, die sich in einem Bogen über einen Teil des Bildes ziehen, dann wieder einfach nur weiße und rote Farbkleckse auf kraftvoll blauem Untergrund, die sich einem Oval oder einer runden Form annähern – und neben denen sich links auf den zweiten Blick ein Violinschlüssel bemerkbar macht; und auf den dritten nimmt man auch fünf Notenlinien wahr, die sich in gedecktem Braun im Hintergrund quer über das Bild ziehen. Poetisch sind sie, diese hier in vielen Variationen gefeierten musikalischen Schriftzeichen. Und vor allem, wenn man vor ihnen steht – und sie nicht nur auf Fotos oder pdf-Dateien sieht -, entfalten sie ein quirliges Eigenleben.
Warum Noten? Warum nicht – könnte Kühn antworten. Aber im Gespräch mit der NDR-Journalistin Sarah Seidel sprach Kühn bei der Vernissage davon, dass Noten einfach ein wesentlicher Teil seines Lebens sind. „Ich konnte Noten lesen, bevor ich Worte lesen konnte. Ich lese Noten wie ein Buch und schaue sie mir gern an“, sagt er da. Und dann fügt er an: „Ich mag Sechzehntelnoten. Sowas wie ‚Black Page‘ von Frank Zappa – das macht mich an.“ The Black Page, ein Stück von 1978 mit ganz engem Notensatz sehr vieler zu spielender Töne: wie geschaffen für einen, der sich an Noten nicht sattsehen kann.
Ob er seine Bilder denn auch am Klavier spielen könne? Darauf winkt Kühn gleich ab. „Das ist nicht Sinn der Sache“. Es gehe ihm immer um Freiheit, in der Musik, im Leben – und auch auf den Bildern. Deshalb führen die Noten auf Kühns Gemälden ein zweckfreies Eigenleben, zu dem sie jeder Betrachter seine Klänge selber ausmalen kann. Aber Kühns eigenes Klavierspiel – mit ihm am Flügel – hörte man dann doch noch bei der Ausstellungseröffnung. Nach intensiv wirbelnden, sperrig ineinander verschränkten Tonketten schälte sich auf einmal ein Klassiker heraus: das berühmte lyrische Stück „Body and Soul“, innig gespielt, mit ebenso viel Seele wie Körper, mit ab und zu hervorbrechenden schroffen Läufen und kleinen Kaskaden, die der Schönheit zu aktueller Wahrheit verhelfen. Während das Publikum eintaucht in diese Klänge, hebt Kühn auf einmal sanft die Hände, wie um das Klavier zu dirigieren – das selbst die Melodie weiterspielt. Das Klavier wird in den verbleibenden Tagen der Ausstellung auch noch zu hören sein – sozusagen mit Kühns musikalischem Geist, der in der Ausstellung anwesend ist.
Text: Roland Spiegel