Köln 2001, ein ruhiger Dienstag Abend, vielleicht auch ein Mittwoch oder sogar ein geschäftiger Donnerstag, eigentlich nicht weiter wichtig. Der junge Jazzpianist, Student der HfM Köln im zweiten Semester, sucht die Töne und nebenbei auch sich selbst. Im GLASHAUS, dem Restaurant des Hyatt Regency, wirft er an diesem Abend mit Noten. Der Anzug, eigens dafür besorgt, sitzt. Auswendig läuft’s noch nicht so gut, also liegt lässig das REAL BOOK vor ihm, der Kanon der wahren Jazzsongs. Wäre er Klassikstudent, so würde die ausnotierte „Auswahl leichter bis mittelschwerer Jazzstücke“ aufrecht auf dem Pult stehen, erste Raste. Und er müsste diese ausschweifenden, federnden Handbewegungen machen, die seine frühere Klavierlehrerin schon immer affektiert fand. Sie hatte ihn für seine nüchterneren, rhythmischen Gesten gelobt.
Weiter hinten, über den Rhein, gibt sich der Dom kitschig vor dem untergehenden Feuerball. Klingt nach James Bond? Später mehr. Nur so nebenbei: Manche Scheiben im GLASHAUS müssten dringend mal wieder geputzt werden. Alles eine Frage des Sonnenstandes. Eine Melodie, ein paar kryptische Akkordsymbole ohne jede Norm, eine Seite pro Song, spiralgebunden, das muss für die Gage reichen. Für die Kreativität allemal. Es gibt 50 Mark die Stunde. Gar nicht schlecht eigentlich, für einen Studenten. Leider zu selten, wenig planbar und für eine Fernreise in den Semesterferien nicht ausreichend. Er verdient sich das Geld dennoch dankbar in Vertretung des ungarischen Haus- und Hofpianisten. Der hatte ja schon Frank Sinatra zu später Stunde in der Bar begleitet, so wird berichtet.
Wieder einmal spielt er in opulenter Medley-Manier, um die aufmerksam einander zuhörenden und sich selbst verbal applaudierenden Gäste nicht obendrein ständig zu Beifallsstürmen in Richtung Flügel zu nötigen. Unnötig ist der Applaus hier sogar, wünscht er sich zu denken, der würde der gedämpften Atmosphäre ihr Understatement nehmen. Außerdem lästig, fürs Klatschen immerzu das Besteck abzulegen, das weiß man ja. In die pseudo-erhabene, wohl doch ein wenig erwartungsvolle, vermutlich sogar aufmerksamkeitsheischende Stille nach dem ca. 21-minütigen „Speak low, my funny autumn leaves – now’s the time: ‚round midnight, come rain or come shine“ dringt dann aber doch ein außerordentlich anerkennendes, punktuelles Geklatsche zum Geschirrklappern. Von irgendwo da vorne links. Im Rücken des Klavierhockers rauscht der Etagenwasserfall in die Tiefe der steinernen Lobby. Mit viel Phantasie – und daran hatte es dem jungen Pianisten nie gemangelt – konnte DAS der Beifallssturm sein. Sorry, Zugaben gibt’s heut‘ aber nicht!
Etwas später, bei „My romance, i get a kick out of you on a clear day – there will never be another you and the night and the music“, nähert sich plötzlich ein Kellner vom Diskant her. Noch bevor das Spiel ein sinnvolles Ende, oder auch nur eine vorübergehende, klangvolle Fermate finden kann, legt er los: Da sei ein Gast, der dem Klavierspieler gerne ein Getränk ausgeben möchte, was er denn bringen könne. „Ähm… ich nehm… ’ne Cola“. Es war nicht leicht, zu einem Bossa Nova-Rhythmus flüssig zu sprechen. Natürlich hätte es eine einfallsreichere, mondänere, dem Ambiente angemessenere Wahl gegeben, aber „ok, hier ist Deine Cola. Ich geh mal zum Gast und bedank mich für Dich“.
Diese coole „Die-richtigen-Akkorde-drücken-und-dabei-improvisieren-und-gleichzeitig-in-der-Form-bleiben-und-immer-wieder-vom-Blatt-aufschauen“-Spielweise beherrscht der junge Student schon ganz ordentlich. So liefert er jetzt den Soundtrack zu den Schritten der ambitionierten Servicekraft und kann ihr aus dem Augenwinkel folgen. Aus Versehen die 3. Zeile übersprungen und dann mit Pokerface weitergespielt (während die Hände wie von selbst Cm7 F7 drücken – noch ohne b9 oder Tritonus-Substitut, dafür mit sus-Vorhalt), landen die Augen schließlich bei… MOORE, ROGER MOORE!
Da hebt er auch schon sein Glas – offensichtlich ein mondäner, dem Ambiente angemessener, wohltemperierter Weißwein – in Richtung des Barpianisten, der genau dieses Wort so hasst und sich allein durch die Geste des wahren Gentlemans doch gleich geadelt fühlen kann. Schüchtern-strahlend hebt er sein Glas Cola, Coca-Cola. Mitsamt der fünf Eiswürfel und dem Fünf Sterne-Zitronenscheibchen schwenkt er es kurz beherzt in Richtung des Geheimagenten, um es dann an die trockenen Lippen zu setzen. Ein wahrer James Bond-Moment. Fan ist er, der Halbinder, seit Null Null Sieben in einer frisierten Rikscha durch indische Gassen gerast war. Nun ist es Sir Roger Moore höchstpersönlich hier in Kölle am Rhing, der die bedrückende Stille (die eigentlich keine Stille ist, sondern eben das monotone Grundrauschen des Wasserfalls und das ewige Gemurmel der Gästeschaft) zwischen den gut gemeinten pianistischen Medleys mit seinem Klatschen aufbricht. So verhilft er der Musik dies- und jenseits der Stille zu wahrer Würde. Es spielt sich nun wie von selbst, nachdem auch die hübsche Frau an Moores Seite ihr Glas gehoben hat und herzlichen Applaus spendet. Das Schauspiel wiederholt sich einige Male, die Cola wird zunehmend warm und wässrig, aber das ist jetzt Nebensache.
Bekannt ist: Diskretion gehört zu den Grundtugenden jedes ehrvollen Barpianisten, was dem abgegriffenen Begriff trotzdem nicht zur Aufwertung verhilft. Mit nichts weiter also, als einem dezenten Kopfnicken, verabschiedet sich der junge Hintergrundkünstler (besser?) gegen 22 Uhr von dem illustren Gast da vorne links. Ohne zu dem Zeitpunkt ahnen zu können, dass der am nächsten Abend zur selben Zeit am selben Tisch dieselbe spendable Haltung zeigen würde.
Diesmal gibt es ein eindeutigeres Drehbuch: „Hi, der Roger Moore möchte Dir wieder ’nen Drink ausgeben. Er sagte aber: bitte keine Cola!“ – „Ähm…ach so, ja…was trinkt er denn? Ich nehm dann… das gleiche!“. Mit diesem viel einfallsreicheren, mondäneren, dem Ambiente angemessenen, wohltemperierten Getränk in der Hand und einem kräftigen Schluck davon in der Kehle, ist es nun ein Leichtes, dem prominenten Gast und seiner sympathischen blonden Partnerin gegenüberzutreten, sich herzlich zu bedanken für Applaus und Trank.
Noch immer Jazzstudent im zweiten Semester, gefühlt aber in dem Moment irgendwie schon viel weiter, schüttelt er dem Agenten und dem Bondgirl schließlich nach einem kurzen, netten Dialog zum Abschied die Hand – äußerst gerührt.
RON CHERIAN
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