Wer heute Anne Hartkamp hört, im Konzert oder auf CD, ihre Entwicklung zu einer unserer vielseitigsten und profiliertesten, immer authentischen Jazzvokalistinnen seit Jahren verfolgt, kann kaum glauben, dass ihr zu Beginn ihrer Karriere abgeraten wurde, Jazz zu singen. Ihre Stimme sei zu hell. Jazzsängerinnen hatten, in den Achtzigern, schwarz, dunkel, rauchig zu klingen. „Aber ich wollte diese Musik machen, ich habe dafür gebrannt!“
Noch heute schwingen Enttäuschung, aber eben auch Trotz und Entschlossenheit mit, wenn sie über jene Zeit spricht. „Ja, ich habe eben eine helle klare Stimme. Aber Maria João doch auch. Und was sie damit hervorbringt, mit dieser ungeheuren Unbändigkeit oder auch Verspieltheit, wie sie extrem wechselt zwischen ganz schnellen Tempi und diesen gedehnten, gehauchten Tönen, das hat mich tief beeindruckt, und ich habe gedacht: Ah, man darf das also, man kann mit dieser Stimme Jazz singen.“
Der Weg der Anne Hartkamp zum Jazz verlief nicht zügig und geradlinig, nicht typisch wie viele Jazzbiographien. Zu Hause gab es keine väterliche Jazzplattensammlung, in der Schule keinen jazzbegeisterten Musiklehrer. Als es im Gymnasium in Heiligenhaus, ihrem zwischen Düsseldorf und Essen gelegenen Heimatstädtchen, dann doch einmal einige, wohl im Lehrplan vorgeschriebene Unterrichtseinheiten über Jazz gab, wählte sie Ella Fitzgerald als Referatsthema, weil ihr ein Klassenkamerad eine Ella & Louis-Kassette geliehen hatte. Mehr Material gab es nicht. Aber es begann ein erster kleiner Funke zu glimmen. An der örtlichen Musikschule sollte eine Jazzcombo gebildet werden. Da wäre sie gern dabei gewesen. „Aber ich spielte Geige und habe gesungen, klassisches Liedgut, und so wurde mir mitgeteilt, beides könne man nicht gebrauchen. Das empfand ich als ganz schrecklich.“
Als sie nach dem Abitur in Wien ein klassisches Gesangsstudium aufgenommen hatte, wurde die schwelende Neugier auf Jazz weiter genährt. Der Freund einer Mitbewohnerin, Schlagwerker bei den Wiener Symphonikern, der in seiner reichlichen Freizeit selbst viel Jazz spielte, nahm die wissbegierige deutsche Studentin mit in die angesagten Jazzclubs, und nach einiger Zeit war sie mutig genug, selbst an Jamsessions mitzuwirken. Der Jazzbazillus war fest in sie eingedrungen, das Gesangsstudium geriet in den Hintergrund. Bald wechselte sie zu Germanistik und Musikwissenschaft an der Universität Bonn. Und dort, bei den allwöchentlichen Sessions in der „Jazzgalerie“ mit prominenten Musikern wie dem Flötisten Michael Heupel, dem Bassisten Gunnar Plümer oder dem Schlagzeuger Michale Küttner hat sie aufgesogen, was sie über Jazz wissen wollte.
Dazu kamen mittlerweile Kassetten und Platten mit den großen amerikanischen Sängerinnen: „Ich bin ein großer Fan von Billie Holiday, auch wenn ich sie derzeit nicht mehr so viel höre, aber sie hat mich tief berührt. Einerseits war sie mir ganz fremd, weil ich aus der klassischen Musik kam, wo es immer um ein festgeschriebenes Klangideal geht und man genau weiß, was richtig und was falsch klingt. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich die Brücke schlagen konnte zu einer Stimme, die man im konventionellen Sinne nicht als schön bezeichnen kann. Andererseits aber hat mich Billie Holidays Wahrhaftigkeit, ihre Direktheit, mit der sie sich in die Musik gestürzt hat, ihre unglaubliche Musikalität wahnsinnig beeindruckt. Ich habe mich lange nicht getraut, das in meiner Art zu singen hören zu lassen. Ich verehre sie immer noch sehr. Auch bei Abbey Lincoln, einer ihrer Nachfolgerinnen, liebe ich diese Ungeschminktheit. Ich mag einfach gepackt werden, mag Soul in der Musik, damit meine ich nicht vordergründige Soul-Klischees – Abbey Lincoln war ja auch keine ‚Soulsängerin‘ – sondern die emotionale Unmittelbarkeit, das eindringliche Erzählen.“ Abbey Lincoln hat Anne Hartkamp noch1998 live in Paris erlebt, vorher aber schon – „ein Erweckungserlebnis!“ – Maria João, 1986 im Düsseldorfer „Downtown“.
Auf den ersten Blick nicht in diese Galerie von Vorbildern passt Anita O’Day, jedoch: „An ihr mag ich die Eleganz ihres Auftretens, aber auch ihre ‚innere‘ Eleganz. Sie hat so was Nonchalantes, Müheloses, Unangestrengtes, sie ist sexy, ohne sexy sein zu müssen. Nicht dieses: ‚Hey, ich bin ja so cool!‘ Dann auch ihre tolle Improvisation, das super Phrasing, das unheimlich sichere Swing timing und natürlich ihr unnachahmliches Timbre.“ Dagegen fühlt sie sich durch Ella Fitzgerald nicht so tief berührt: „Sie gehört irgendwie nicht in meine Familie, in meinen Stammbaum, obwohl sie natürlich eine großartige Sängerin ist.“
In die Bonner Zeit fiel, was Anne „meine eigentliche Initiation“ nennt: „In der ‚Jazzgalerie‘ bin ich überhaupt erst auf die Idee gekommen, dass man Jazz auch zum Beruf machen kann.“ Selbstkritisch, wie sie war (und ist), sah sie bald ein, dass ihr dafür der autodidaktische Zugang zum Jazz nicht ausreichte. Sie zog weiter nach Amsterdam, um an der Hogeschool voor de Kunsten bei Deborah Brown, Humphrey Campbell und Erik van Lier Jazzgesang zu studieren. Wichtige Jahre, in denen sie genug lernte, um eine professionelle Karriere zu wagen, von vornherein nicht „nur“ auf den Gesang angelegt, sondern umfassender auf – so ihre spätere und heutige Berufsbezeichnung – „singer/composer/lyricist/songwriter“. Sie zog um nach Köln, wo sich die gebürtige Rheinländerin bis heute wohlfühlt, und tauchte in die dortige vitale Jazzszene ein. Seitdem konzertiert sie unermüdlich und nahm mehrere CDs auf, beginnend 1997 mit Gunter Hampels „Next Generation“ und vorerst endend im Herbst 2015 mit „Dear Bill“ und gerade jetzt erst mit „Songs & Dances“.
„Dear Bill“ – „dedicated to the great pianist Bill Evans“ – ist gewissermaßen als work in progress entstanden. Der Pianist Thomas Rückert, mit dem Hartkamp schon viele Jahre zusammenarbeitet, teilt Annes Verehrung für Bill Evans, der für sie neben Sonny Rollins, Charles Mingus und Thelonious Monk zu den Instrumentalisten zählt, die sie ebenso geprägt haben wie die genannten Sängerinnen: „Von Bill Evans gibt es einige Aufnahmen, die ich schon ganz lange kenne und liebe. Auf ‚Portraits in Jazz‘, meiner ersten Evans-Platte, sind ein paar Stücke, die ich nach wie vor unglaublich und fantastisch finde. Und Thomas Rückerts‘ Spielweise ruft geradezu nach Evans!“ Die beiden haben einige der von ihnen besonders geschätzten Stücke immer wieder mal ganz für sich, zur eigenen Freude, gespielt. Daraus ergaben sich zwei Konzerte, die sie selbst derart gelungen fanden, dass sie aus diesen und anderen Evans-Kompositionen ein Album machten, als Duo und auf vier Titeln mit John Goldsby, dem Bassisten der WDR Big Band, als special guest. Es entstand ein vollkommenes Beispiel für luziden, spiel- und improvisationsfreudigen kammermusikalischen Jazz, mit einigen Standards, wie sie auch Evans gern nutzte, so „My Foolish Heart“, „How Deep Is The Ocean“, „You Must Believe in Spring“. Dazu ausgesuchte Kompositionen von Evans, wie das berührende „Letter To Evan“, zum vierten Geburtstag seines Sohnes, „Turn Out The Stars“ und das schon klassische, oft gecoverte „Very Early“. Zum Hörgenuss zählen auch zwei Kompositionen von Thomas Rückert, „Dear Bill“ und „Translucent Yellow“, zu denen Anne Hartkamp die Texte schrieb. In der Summe wahrhaft „music to feed the soul“, wie es die letzte Zeile des ersten Textes fast schon programmatisch verheißt.
Nur vier Monate nach dem Release-Konzert für „Dear Bill“ im Kölner „Loft“ stand Anne Hartkamp schon wieder auf der Bühne, im Kölner „Stadtgarten“, um ihr neuestes Album „Songs & Dances“ zu präsentieren, diesmal mit ihrer festen Band. Neben dem sensiblen, kongenial begleitenden und melodiös improvisierenden Thomas Rückert spielen André Nendza, auch ein langjähriger Weggefährte Annes, mit seinem unverkennbaren sonoren Kontrabass und Oliver Rehmann, ein besonders einfühlsamer Schlagzeuger, der oftmals eine eigene dritte oder vierte Melodielinie beisteuert. In dieser bewusst als Quartett firmierenden Band lässt Anne ihren Kollegen viel Raum für eigene Improvisationen. Ganz im Sinne Bill Evans‘ interagierendem Trio setzt sie auf die Gleichberechtigung aller Bandmitglieder. Sie selbst sieht sich nicht als die vor der Band stehende Sängerin, sondern als gleichrangige Musikerin. So zieht sie sich beim Auftritt während der Soli der Kollegen an den Bühnenrand zurück, behauptet allerdings während ihrer Parts die ganze Bühne mit einer leidenschaftlichen, ganz dem Rhythmus oder, bei Balladen und Lovesongs, der Seele hingegebenen Body Performance – Body and Soul eben.
Von den zehn Titeln sind allein acht eigene Kompositionen, die Songs mit eigenen Lyrics, die Dances textlos als Scat oder instrumentale Vokalise. Ihre Stimme verharrt keineswegs nur in hellen Sphären, wo ihr zuweilen etwas Schwebendes, Silbriges, Flirrendes, Windböiges eignet. Sie vermag auch in die tieferen Lagen eines Alt oder zumindest Mezzosopran hinab zu tauchen, so im fulminanten letzten Song der CD, „After The Rain“ von John Coltrane, den sie mit voller dunkler Altstimme in langgezogenen Bögen wie die Dankeshymne einer über den ersehnten Regen jubelnden Erdgöttin erklingen lässt – Gänsehaut! Und das ohne den Text, den sie eigens dafür geschrieben hatte, jedoch aufgrund des Einspruchs der Nachlassverwalter von Coltranes Werken nicht singen durfte. Aber im Booklet ist er abgedruckt, wie übrigens auch ihre bemerkenswerten poetischen und gedankenreichen Lyrics zu den anderen Songs, von denen nur einer ein Liebeslied ist, das zarte, hingebungsvolle „Deep“.
Anne Hartkamp zu ihren Texten: „Ich schreibe schon auch über Liebe, aber ich finde, es gibt noch viele andere wesentliche Themen, die mich beschäftigen, so immer wieder die Frage: Wie lebe ich eigentlich in dieser Welt? Wie gehe ich um mit der ständigen Überfülle von Informationen, Eindrücken und den ständigen Ansprüchen an Perfektion? Wie kriege ich meinen Kopf sortiert?“ In „Scattered Minds“ versucht sie, diese Dilemmata abzubilden. „Take a breath“ ruft sie uns allen mahnend zu. Und entlässt uns gleich darauf in die stimmungsvolle Ballade „The Moon A Sphere“, die einen an Matthias Claudius denken oder in Nachtbilder von Caspar David Friedrich versinken lässt. Unmittelbar folgend lädt sie mit „Sea Time“ frohgemut ein zu einem Ausflug an das von ihr so geliebte Meer, „where the sea is soft and the breeze is gentle… and we will have a time / right out of time and space…“ Trotzig und widerständig verheißt sie uns schließlich „As Yet, We’re Not Entirely Lost – Enjoy the time we spend.“
In allen ihren Disziplinen zugleich brillierend hat Anne Hartkamp mit den Alben „Dear Bill“ und „Songs & Dances“ einen Höhepunkt ihres Schaffens als Vokalistin, Komponistin und Lyrics-Autorin erreicht.
Dietrich Schlegel
- Anne Hartkamp & Thomas Rückert: Dear Bill, Special Guest: John Goldsby, CD und LP, Jazzsick Records, 2015;
- Anne Hartkamp: Songs & Dances, CD, Double Moon Records, 2016