Für den Kulturphilosophen Theodor W. Adorno gab es -musikalisch gesehen – einerseits das Richtige (die künstlerische Avantgarde der zweiten Wiener Schule) und das Falsche (Jazz als „Inkarnation einer manipulierenden Kulturindustrie“). Bei aller zweifellos vorhandenen Genialität seiner Analysen, hätte man den großen Denker des 20. Jahrhunderts vermutlich in eine von ihm selbst geschaffene Kategorie, nämlich in die des „Ressentiment-Hörers“ stecken müssen.
Hier agieren der Klarinettist Lajos Dudas und die Neusser Kammerakademie wesentlich „unverkrampfter“: Hier tut die unmittelbare Konfrontation zwischen gegensätzlichen Schubladen der Musik ausgesprochen gut. Dies zeigt eine neue CD auf dem Jazzsick-Label.
Da werden zu Beginn Anton Weberns „Fünf Sätze für Streichorchester“ mit drei sehr persönlich gehaltenen Intermezzi von Lajos Dudas kontrastiert. Blitzende Tremoli der Streicher atmen einen aufrührerischen Fortschrittsgeist. Weberns Fünf Miniaturen lassen es nur so funkeln und knistern. In kurzen Miniaturen ein Maximum ein Ausdruckskraft zu bündeln, darum geht es. Aber kreatives Musikmachen ist immer das „Beantworten“ von etwas gehörtem. Hier setzt der Jazz mit seinen Potenzialen an: In diesem Geiste interveniert Dudas mit drei Jazz-Intermezzi. Die bei Dudas immer so beseelt klingende Klarinette braucht nur wenige Töne, um zu zeigen, was sie der Webern-Komposition voraus hat: Nämlich alles in sinnlich leuchtende Farben zu tauchen und das ganze Orchester in wenigen Minuten zu treibender rhythmischer Geste anzustacheln. Dann zeigen die Webern-Stücke wieder, was sie dem Jazz geben können, nämlich kompromisslose Ideen-Konzentrate zu liefern.
Der „Brückenschlag“ dieser gleichnamigen CD gelingt so treffsicher, weil er eigentlich ein Heimspiel ist. Lajos Dudas, in Ungarn geboren, lebte und wirkte jahrzehntelang in Neuss und agierte immer wieder als musikalischer Partner der Kammerakademie. Auch hat er vielen jüngeren Talenten maßgebliche künstlerische Anregungen geliefert, etwa dem viel jüngeren Gitarristen Philipp van Endert, der auf dieser CD eine ihm würdige musikalische Rolle beansprucht. Philipp van Enderts Saitenspiel zeugt von tiefempfundenem Unterstatement, das in seiner Ökonomie mit den Tönen jedem überspannten „Zuviel“ eine Absage erteilt. Lässig, cool, unaufgeregt aber hochpräsent geben die Riffs, Licks und Improvisationen dem intensiven Klarinettenspiel von Lajos Dudas ein solides Fundament oder denken es auch in beredten solistischen Geschichten weiter.
Nachdem das Eröffnungsstück einen ganzen Diskurs umspannt hat, liefert die folgende Komposition dieser CD einen lyrischen Ruhepool mit bestem Potenzial zum Seele streicheln.
Sphärische Flageoletttöne auf den Saiten eröffnen ein impressionistisches, später lyrisch romantisches Panorama in den „Hungarian Pictures“, welche Lajos Dudas unmittelbar an Bela Bartok angelehnt hat.
Am Ende dieses erstaunlichen Brückenschlages steht eine viersätzige Ballettmusik, welche noch einmal alle Gegenpole sinnlich und spielfreudig zur Synthese vereint: Maximale Flexibilität und gegenseitige Durchdringung sind angesagt, wenn das Orchester der Kammermusik in der Jazzideomatik aufgeht. Selten gelingt dies der „klassischen“ Zunft so plausibel wie hier, mit viel dramatischer Geste und zugleich „swingender“ Bewegung und ganz viel sinnlichem Farbenreichtum.
Brückenschlag ist ein Live-Mitschnitt aus dem Jahre 2005 mit der Deutschen Kammerakademie Neuss am Rhein unter Leitung von Leo Siberski, der jetzt anlässlich des 75. Geburtstags von Lajos Dudas veröffentlicht wurde.
Stefan Pieper