Dimiter Panev (Labelchef und Promoter, Elen Music) zur Lage des Jazz in Deutschland: „If music cannot change the world, what use does it have?“ (Hector Zazou)
Als ich Joachim-Ernst Berendt in 1997 kennenlernte, unterhielten wir uns über John Coltraine. Er erzählte mir, dass Coltraine fast süchtig war, Musik aus fernen Welten zu hören. Besonders die Komplexität der Musik aus Indien hatte ihn fasziniert. Das spiegelte sich auch direkt in seiner Musik wieder, sowohl in der Musikstruktur und der Komposition als auch in der Improvisation. Alben wie z.B. A Love Supreme (z.B. Psalm), OM oder Meditations sind so entstanden. Ein neues Musikempfinden hatte sich entwickelt. Sein Musikkreis – seine Frau Alice Coltraine und besonders Pharao Sanders – haben diese Linie weiterverfolgt und eine neue Musikwelt erschaffen. Don Cherry ist Ende der 60er selbst nach Marokko gefahren, um dort mit ethnischen Musikern zusammenzuarbeiten. Dann folgten Miles Davis, das Mahavishnu Orchestra, Jan Garbarek etc. etc. etc. Diese Giganten der Musik und des Jazz haben die eigene Musik als Musik der Welt gesehen. (John Coltraine und die indische Musik: http://indiamusicweek.org/files/coltrane.pdf)
Meine erste Live-Berührung mit dem Jazz war 1986 auf den Leipziger Jazztagen. Damals entdeckte ich zum ersten Mal die ganze Vielfalt dieser weltoffenen Musik, genannt Jazz. 1986 in der DDR, hinter dem Eisernen Vorhang unter der Obhut des Sozialismus und der Stasi-Aufsicht, standen auf der Bühne der Leipziger Jazztage neben Maria Joao, Phil Minton, Kate und Mike Westbrook auch Conny Bauer und Günther Sommer, die polnische Gruppe Ossian neben der Doctor Umezu Band aus Japan etc. Alle Stilrichtungen von Avantgarde und Free Jazz bis Ethno Jazz und Traditional waren vertreten. Musiker aus 14 Ländern, aus Ost und West, trafen sich 1986 in Leipzig. Eine ganze Welt hatte sich für mich geöffnet. Das hat sich dann bis zu den legendären 1988 Leipziger Jazztagen (Heiner Müller, Heiner Goebels, Okay Temiz, Iva Bitova, Pavel Fajt, Petras Vysniauskas, Fred Frith etc. etc.) und nach der Wende in der 90er Jahre weiter so entwickelt.
Als ich 1996 selbst anfing, mich professionell mit Musik zu beschäftigen, war diese Welt sehr weit offen. In all den Jahren hatte sich der Jazz in allen Stilrichtungen der Musik weiterentwickelt. In der geeinten deutschen Musiklandschaft im vereinigten Deutschland war Musik und speziell Jazzmusik aus der ganzen Welt vertreten. Als Beispiel kann ich die Festivals Jazz Across The Border in Berlin und Jazz Ost-West in Nürnberg, die leider nicht mehr existieren, nennen. 1996 habe ich mein erstes kreatives Festival „Klanglandschaften“ mit Musikern aus Ost und West, aus Bulgarien, Deutschland, Großbritannien, Japan, Rumänien, Russland und Serbien in Leipzig organisiert.
Seit einigen Jahren beobachte ich leider mit großer Sorge eine ganz andere Entwicklung der Präsentation der Musik und des Jazz in Deutschland. Es sind immer wieder die gleichen Musiker vertreten, die aus einer ehr begrenzten Zahl von Ländern kommen und die immer wieder von den gleichen Promotern präsentiert werden. Die Presse, die Journalisten, die früher so „gierig“ waren, etwas Neues, Unikales, Ungehörtes, Bahnbrechendes zu entdecken, sind wie „Mumien“ geworden. Es wird nur über Musiker geschrieben und publiziert, die in einem bestimmten „System“ etabliert sind. Alles andere fällt raus. So wird auch gleich das Publikum „mumifiziert“, das sich nur nach der Meinung von „Experten“ richtet. „Der ist doch nicht bekannt, also nicht gut“ höre ich sehr oft.
Weltoffenheit – Fehlanzeige! Das Ganze fällt zurück auf die kreativen Musiker, die nicht nur keine Bühnen finden, sondern sich gerade im Weltaustausch nicht entwickeln können. Uns fehlen die Giganten der Musik, die nicht mehr „geboren“ werden.
Die beliebteste Ausrede der Promoter ist, dass, wenn ein Musiker nicht bekannt ist – egal wie gut – kein Geld bringt, weil das Publikum nicht kommt. Jeder aber, der ein Konzert jemals veranstaltet hat, weiß, dass Publikum immer wieder erzogen und entwickelt werden muss. Das ist der Anspruch, den man als denkender, aktiver und kreativer Veranstalter hat, oder? Genau dieser Anspruch fehlt zu oft. Abgesehen davon, dass Qualität Unterstützung braucht und Profit ein Merkmal der kommerziellen Richtungen ist. Gerade bei Veranstaltern, die mit öffentlichen Mittel arbeiten und finanzielle Unterstützung bekommen, ist diese Entwicklung absolut unverzeihlich. – Man hat die Pflicht, weltoffen zu sein!
Ich habe mir die Programme der deutschen Jazz Festivals 2015 angesehen und mit Schrecken festgestellt, dass sich die Situation wirklich sehr verschärft hat. Jazz aus Russland zum Beispiel habe ich seit Jahren hier nicht gehört. Aber auch Osteuropa mit Ausnahme von einigen immer gleichen polnischen Musikern ist absolut nicht da (z.B. wo ist Ungarns sehr starke Jazzszene?). Der Balkan (Bulgarien, Griechenland, Türkei, alles Ländern mit einem sehr starken Jazz), der Orient (fantastische Jazzprojekte), Asien, Mittel- und Südamerika, Afrika (ganz große Jazzwelten) – die breite Welt der Musik gibt es hier in Deutschland fast nicht mehr!?
Es wird von Jahr zu Jahr immer schlimmer. Ist es das Desinteresse oder vielleicht sogar die Ablehnung der Kultur dieser Länder, eine Ablehnung, die in letzter Zeit leider auf den deutschen Straßen immer mehr gezeigt wird? Was ist Folge und was ist Ursache?
„Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.“ (Johann Wolfgang von Goethe)
Ich nenne es seit geraumer Zeit das mentale Intermarium. Am Anfang dieser Begriffsbildung stand für mich die Entdeckung des geopolitischen Begriffs des Intermariums und der nagende Verdacht, das diese fast 100 Jahre alte fixe Idee der USA auch kulturell Auswirkungen haben müsste. Gerade in Europa, gerade in der BRD. Der ästhetisch und ökonomisch kodifizierte Jazz speziell in Deutschland ist ist eine Erscheinung dieses mentalen Intermariums.
Ästhetik ist auch ein kulturimperialistisches Schlachtfeld in unseren Herzen, quer durch unsere Leidenschaften. Siehe die einschlägigen Zitate Brzeziński dazu.
Ein weites Feld, das der Bewusstwerdung harrt.