Von Dietrich Schlegel – „Da bin ich nun wieder in den Strudel der Töne hingerissen.“ Das Konzert des britischen Pianisten Gwilym Simcock im Düsseldorfer Goethe Museum hätte nicht treffender beschrieben werden können, als mit diesem Zitat Goethes aus einem Brief an seinen „Urfreund“ Karl Ludwig von Knebel, in dem er seinen Eindruck von einem Konzert der berühmten Pianistin Maria Szymanowska zusammenfasst. Wir wissen leider nicht, auf welche Weise die seinerzeit berühmte Künstlerin ihr Publikum verzauberte. Aber wenn der musikbegeisterte Geheimrat solche Worte wählt, hätte er sie vielleicht auch für die Klanggewitter gefunden, mit denen der virtuose Gast aus London die Zuhörer zu begeisterten Beifallsstürmen hinriss.
Zum sechsten Mal hatten der Hausherr des größten privaten Goethe-Museums, Professor Dr. Christof Wingertszahn, und die Kulturjournalistin Dr. Barbara Steingießer als Initiatorin und künstlerische Leiterin zu der Konzertreihe in das schmucke Barockschloss Jägerhof eingeladen. Die Reihe hat sich offensichtlich im Düsseldorfer Kultur- und Musikleben endgültig etabliert. Diesmal drohte der Ansturm der – so die stetige doppelte Begrüßungsformal – „Goethe-Freunde und Jazzfans“ die Ausmaße des intimen Konzertsaals schier zu sprengen, und das bei 18 € Eintritt. Schließlich kamen alle Besucher unter, wenn auch einige eher unbequem auf den Stufen der zu den schmalen Galerien führenden geschwungenen Treppen. Die drangvolle Enge tat jedoch der kammermusikalischen Sphäre dieser ganz besonderen Spielstätte keinen Abbruch.
Barbara Steingießer hatte in ihrer, wieder mit ausgewählten Goethe-Zitaten zur Musik – und diesmal wegen des Gastes auch zu England – gewürzten Begrüßung in den künstlerischen Werdegang des 1981 in Wales geborenen, in England aufgewachsenen, in London lebenden Pianisten Gwilym Simcock eingeführt. Mit drei Jahren bereits begann er mit dem Klavierunterricht, galt bald als „Wunderkind“, was in britischen Medien auch in diesem Falle gern als deutsches Lehnwort genutzt wird, studierte später intensiv klassisches Piano, Waldhorn (!) und Komposition. Als Teenager wurde ihm der Pfad zum Jazz durch einen Lehrer mittels einer Kassette mit ausgewählten Jazzstücken gewiesen. Nach seiner genauen Erinnerung handelte es sich um „Questar“, den ersten Track von Keith Jarretts Album „My Song“ (1977), sowie zwei Stücke vom Live-Album „Travels“ der Pat Metheny Group (1982). „Das war fantastisch!“, zitiert ihn Steingießer, „denn es hatte alles, was ich an klassischer Musik liebe, und zugleich diese Freiheit des Ausdrucks in der Improvisation.“ Der jugendliche Simcock begann sich intensiv mit der Entwicklung des Jazz zu befassen und wechselte nach den mit Bestnoten absolvierten klassischen Fächern zum Jazz-Studium an die Royal Academy nach London.
Bald stieg er zum Young Rising Star der britischen Jazzszene auf, spielte mit Lee Konitz, Dave Holland, Bob Mintzer, erwarb sich erste Auszeichnungen, so 2007 bei den Parliamentary Jazz Awards (so etwas gibt es in Great Britain!) als „Jazzmusiker des Jahres“. Der internationale Durchbruch gelang ihm dann aber mit einer in Deutschland produzierten CD, den „Good Days at Schloss Elmau“ (2011), die wiederum daheim als eine der zwölf besten britischen CDs für den Mercury Prize, den wichtigsten britischen Musikpreis, nominiert wurde. „Damit“, so Barbara Steingießer, „stand ein Vertreter der ‚Nischenmusik‘ Jazz plötzlich in einer Reihe mit Popstars wie der Sängerin Adele.“ Und den Bogen gewissermaßen von Schloss zu Schloss schlagend, von den „guten Tagen“ in Elmau zum Düsseldorfer Jägerhof, versprach sie dem Publikum dortselbst: „ich bin mir ganz sicher: auch heute ist ein guter Tag.“
Und er wurde es! Ein aufmerksames und – wie sich in Pausengesprächen erlauschen ließ – höchst sachkundiges Publikum kam in den Genuss eines intensiven, von Einfällen in schier übersprudelnden Improvisationen geprägten, musikalisch breit gefächerten Solo Recitals, dessen Stücke einschließlich der eigenen Kompositionen hier zu würdigen, den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. In den temporeichen Stücken bevorzugt Simcock einen kräftigen Anschlag, so dass auch bei rasenden Läufen jede einzelne Taste zu hören ist. Bei lyrischen Kompositionen dagegen wie seiner „Serenade“, ursprünglich für Piano und Saxophon, oder Cole Porters „Every Time We Say Good Bye“, die er gern retardierend zelebriert, ist er zu zartestem Pianissimo fähig. Seine klassische Ausbildung, sowohl was die stupende Technik als auch die umfassende Kenntnis der Literatur anbelangt, ist stets zu spüren. Bei letzterer bedient er sich auch ganz bewusst, wenn er zum Beispiel über den zweiten Satz des Klavierkonzerts von Edward Grieg sehr behutsam und voller Respekt improvisiert. Heftiger geht er mit einer Transformation des ersten Satzes von Samuel Barbers „Excursions for piano solo“ um, aus dem er, fasziniert von dessen Ostinato, einen stampfenden „Barber Blues“ herausholt – faszinierend!
Die enthusiasmierten Zuhörer entließen ihn nicht ohne zwei Zugaben, in denen Gwilym Simcock nochmals seine Vielfältigkeit demonstrierte: Hauchzart und extrem verzögert den Popsong „My One And Only Love“ und „Broadway“ aus dem gleichnamigen Musical fast im Stride Piano Stil. Generell entzieht sich Simcocks Spiel allen Kategorien, weil er aus vielerlei Einflüssen und Eindrücken aus Jazz, Klassik und auch Pop seinen eigenen, unverwechselbaren Stil entwickelt hat. In diesem Jahr wird er übrigens Mitglied des Pat Metheny New Quartet werden, landet also bei jenem Heroen des Fusion und Latino Jazz, der ihn als Teenager schon so sehr beeindruckt hatte.
Sympathisch berührte Simcocks Würdigung zweier großer, in jüngster Zeit verstorbener Jazzmusiker, die er als Vorbilder für ihn und die jüngere Jazzgeneration empfindet: der Trompeter und Komponist Kenny Wheeler und der Pianist und Hochschullehrer John Taylor. Vielleicht deshalb spielte er zum Ende des regulären Programms eine herrlich groovende Version von Irving Berlins „How Deep Is The Ocean“, einem Favourite von John Taylor. Überhaupt wirkt der junge Pianist sehr warmherzig und Empathie geprägt, was er auch in seiner von britischem Humor durchwirkten Conference durchblicken ließ. Großen Beifall erhielt er auch für seine Lobpreisung des „amazing ambience“, in dem er musizieren durfte, seinen Dank an die Veranstalter und nicht zuletzt für den Appell an sein Publikum, dazu beizutragen, dass diese Konzertreihe an diesem „wonderful place“ fortgeführt werden könne. Daran sollte es in der Tat keinen Zweifel geben.
CD-Tipps:
Gwilym Simcock: Good Days at Schloss Elmau, 2010; Lighthouse, 2012; Reverie Schloss Elmau, 2014; Instrumation, 2014; alle bei ACT Music