Von Dietrich Schlegel. Gleich zu Beginn sei es gesagt: „The Life And Art Of Jutta Hipp – Hipp is cool“ ist eine verlegerische und jazzhistorische Großtat des Musikproduzenten Micha Gottschalk und der Jazzmusikerin und Musikpädagogin Ilona Haberkamp. Ganz wesentlich war auch der Jazzhistoriker Gerhard Evertz, Verfasser eines Buches über „Jutta Hipp – ihr Leben & Wirken“, an Recherche und Dokumentation beteiligt. Eine stabile Box im 12“ Format alter LPs enthält ein schwergewichtiges, reich bebildertes Buch voller informativer Texte und Dokumente, ein Beispiel hoher Buchkunst, noch beeindruckender als Gottschalks 2014 in ähnlicher Aufmachung erschienene Text- und Musikdokumentation „mood records cologne Gigi Campi: Jazz in West Germany 1954 – 1956 – The First Independent Modern Jazz Label in Europa“.
So wurde dieses Gesamtkunstwerk zu einer bibliophilen Hommage auf Jutta Hipp, die am 4. Februar 1925 in Leipzig geborene und am 7. April 2003 in Queens/N. Y. gestorbene einst als „First Lady of European Jazz“ gefeierte Pianistin, die über Jahre in Europa auch die einzige Jazzmusikerin an einem Instrument war. Sonst gab es nur Sängerinnen. In diesem Jahr wäre sie 90 Jahre alt geworden. Der Inhalt dieser Box ist von berauschender Vielfalt. Nach einem zusammenfassenden Vorwort des renommierten Musikwissenschaftlers Robert von Zahn folgt als Kernstück eine von Haberkamp einfühlsam geschriebene, mit vielen bisher nicht bekannten Details angefüllte Biographie in Deutsch und Englisch. Sie fällt sehr viel ausführlicher aus als Haberkamps notgedrungen knapper gehaltener Abriss des wechselvollen Lebens dieser vielseitigen Künstlerin im booklet ihrer 2013 erschienenen, bereits biographisch ausgerichteten CD „cool is hipp is cool – A Tribute To Jutta Hipp“ (s. die ausführliche Besprechung von Dietrich Schlegel: „Es bleibt ein Rätsel – Auf den Spuren der Jutta Hipp“, JazzZeitung 04/2013).
Ilona Haberkamp hatte Jutta Hipp persönlich kennen und schätzen gelernt, als sie im August 1986 mit ihrer Freundin und Kollegin Iris Timmermann (Kramer), beide junge Musikstudentinnen und Mitglieder der Frauen-Bigband „Reichlich Weiblich“, bei der einst gefeierten Jazzpianistin in deren bescheidener Ein-Zimmer-Wohnung in New York aufgekreuzt waren. Die angehenden Berufsmusikerinnen wollten wissen, warum Jutta Hipp trotz vielversprechender Karriere das Spielen aufgegeben hatte. Eine schlüssige Antwort hatten sie damals nicht bekommen, auch nicht auf die Frage, warum sie nie mehr nach Deutschland zurückgekehrt war. Aber Haberkamp, die diese Frau als „etwas ganz Besonderes“ empfand, blieb mit ihr in ständigem Kontakt und beschäftigte sich weiter intensiv mit ihrer Jazz-Karriere und ihrem wechselvollen, auch von tragischen Momenten geprägten Leben. Nach der Hipp-CD ist ihre neue Biographie und dieses opulente Werk, das sie mit dem anderen Hipp-Adepten Gerhard Evertz erarbeitet hat, ein wahrhaft vorzeigbares Ergebnis ihrer gemeinsamen Forschungen.
Außer der lesenswerten Biographie finden sich in dem Buch zahlreiche Artikel, Interviews, Berichte über Konzerte und Festivals aus Fachzeitschriften und Zeitungen, die von der Wertschätzung Jutta Hipps bei Experten und Jazzfans zeugen. Vor allem der biographische Teil des Buches ist voll gespickt mit Fotos aus allen Lebensabschnitten Jutta Hipps. Viele Porträts zeigen die attraktive junge Frau. Aber die für das Buch Verantwortlichen scheuen sich nicht, auch die freundlich in die Kamera schauende alte Dame in Queens zu zeigen. Hervorzuheben sind die großformatigen fünf Porträts des seinerzeit berühmten Kölner Fotografen Chargesheimer, die allerdings durch eine extreme Nahaufnahme Jutta Hipp seltsam verfremdet erscheinen lassen. Sie dokumentieren aber, welchen Status die junge Jazzpianistin auch in der Kunstszene der fünfziger Jahre genoss.
Große Sorgfalt haben Produzent, Herausgeber und Autoren auf die Dokumentierung der neben der Musik bemerkenswerten anderen Talente Jutta Hipps verwendet: Malen, Zeichnen und Dichten. Noch während des Krieges hatte sie an der Leipziger Kunstakademie Buchkunst und Graphik studiert. Der Band enthält frühe Zeichnungen und Entwürfe für Buchumschläge, einige karikaturenhafte, z. T. aquarellierte Zeichnungen aus der Welt der amerikanischen Soldaten, die ihr nach ihrer Flucht in den Westen ab 1946 in den Army-Clubs, in denen sie ihr erstes Geld als professionelle Pianistin verdiente, über den Weg liefen.
Kaum Zeit für ihre darstellende Kunst hatte sie, nachdem sie 1952 mit dem Hans Koller Quartett, dessen festes Mitglied sie inzwischen war, von München nach der damaligen Jazzmetropole Frankfurt umgezogen war. Der deutsche Jazz erlebte seine erste Blüte, beeinflusst durch amerikanische Gäste, die überwiegend dem Cool Jazz verpflichtet waren. Aber die Arbeitsbedingungen in den Nachtlokalen, die nach und nach die US-Army-Clubs ablösten, waren überaus hart, selbst in dem 1952 von dem Trompeter Carlo Bohländer eröffneten Domicile du Jazz, dem späteren Jazzkeller. Oft wurde von 20 Uhr bis in die frühen Morgenstunden gespielt. Das zehrte an der physischen und psychischen Substanz der Musiker. Kein Wunder, dass viel getrunken wurde. Auch Jutta Hipps Alkoholproblem, das ihr später noch so zusetzen sollte, begann bereits in Frankfurt.
So sind die 20 ihrer Aquarelle, die in sorgfältigem Druck als Beispiele in das Buch aufgenommen wurden, und das Dutzend Zeichnungen auch erst nach ihrer Übersiedlung in die USA entstanden. Die Aquarelle zeigen in naturalistischem Stil überwiegend friedliche Landschaften aus dem New Yorker Umland. Sie spiegeln den Wunsch der alternden Jutta Hipp wider, nach den Turbulenzen ihrer Jazz-Jahre ein geordnetes Leben in Ruhe und Frieden zu führen. Interessanter sind die Zeichnungen, etwa von Straßenszenen in Harlem, mit sicherem Strich, detailbewusst und mit einer sozialen Aussage.
Der Clou aber sind 22 Cartoons von berühmten, ihr zum großen Teil persönlich begegneter Musiker, teils liebevolle, manchmal auch weniger schmeichelhafte Porträts, zu denen sie später lyrische Porträts in Englisch und/oder Deutsch hinzufügte. Diese Gedichte suchen ihresgleichen, in ihrer lapidaren, zugespitzten und treffsicheren Sprache – eine kostbare Trouvaille, die eine gesonderte Veröffentlichung oder Ausstellung verdiente. Karikiert hat Jutta Hipp u. a. Lester Young, Horace Silver, Lionel Hampton, Gerry Mulligan, Zoot Sims, Ella Fitzgerald. Gedichte gibt es auf Horace Silver, Thelonious Monk, Charlie Mingus, Charlie Parker, John Coltrane, das Modern Jazz Quartett, Errol Garner, Gerry Mulligan, Billie Holiday. u.a., auch auf Carlo Bohländer, Klaus Doldinger, Gunter Hampel, Albert Mangelsdorff. Zu ihm ein Beispiel:
Ein dreister / Hexenmeister / zog in seriöser Laune / an seiner Posaune; / zog mit Fleiß / einen magischen Kreis / rund um / sich herum, / und steht vornehm, exzentrisch, allein / unberührt im Scheinwerferschein.
Von historischem und ästhetischem Reiz sind die Abbildungen sämtlicher Labels der unter Mitwirkung von Jutta Hipp veröffentlichten Singles und LPs sowie der Plattenhüllen. Sie dekorieren einen „Jutta Hipp Recording Index“ mit den jeweiligen Besetzungen und Aufnahmedaten, absolut unentbehrlich für alle an Jutta Hipp und der Geschichte und Entwicklung des Jazz Interessierte. Unter dem Buch befinden sich, versenkt wie in einer Schatzgrube, sechs CDs mit allen veröffentlichten Aufnahmen zwischen 1952 und 1956. Sogar die ersten Jazz-Versuche Juttas mit ihren Freunden des Leipziger „Lime City Swing Club“, dabei auch der blutjunge Rolf Kühn, von 1945/1946 wurden von einer Schellack-Demo auf CD übertragen. Obendrauf gibt es eine DVD mit einem von Joachim Ernst Berendt für den Südwestfunk 1953 produzierten kurzen TV-Film „Jazz Gestern und Heute“, mit dem Hans Koller Quintett (neben HK Albert Mangelsdorff, Jutta Hipp, Shorty Roeder b, und Karl Sanner dr. Nicht zu sehen sind die den Jazz von Gestern repräsentierenden Two Beat Stompers. Das Filmchen gehört zu JEBs Versuchen, den Jazz in Deutschland „kulturfähig“ zu machen, stellt aber ein eher rührend unbeholfenes Beispiel der Musikerziehung dar. Außerdem doziert er über Cool Jazz ausgerechnet über ein Solo von Jutta Hipp.
Auf so gut wie allen CDs, ob mit Hans Kollers Quartett oder Quintett oder seinen späteren „New Jazz Stars“, ob mit Jutta Hipp And Her German Jazzmen (das waren Emil Mangelsdorff as, Joki Freund ts, Hans Kresse b, Karl Sanner dr) oder anderen Formationen, überwiegend wird der damals vorherrschende Cool Jazz gespielt. Sowohl Hans Koller als auch Joki Freund, der zumeist die Arrangements für die etwas weniger unterkühlt spielende Jutta Hipp Combo schrieb, hingen dem von Lennie Tristano und Lee Konitz gepflegten kühl intellektuellen Jazzstil an, dem sie aber als „Frankfurt Sound“ eine eigenständige Färbung gaben. Auch von Jutta Hipp hieß es immer wieder, sie orientiere sich in ihrem Stil an Tristano und sei d i e Cool Jazz Pianistin schlechthin. Sie selber hat das später in vielen Interviews und Briefen dementiert und den Cool Jazz sogar als „verkopft“ und „leblos“ verächtlich gemacht. „Tristano etc. langweilen mich zu Tode. Ich musste das nur damals machen, sehr ungern“, schreibt sie 1980 an die Redaktion des „JazzPodium“, „da war immer Streit mit dem Kollerhans und anderen.“ Sie habe sich eben anpassen müssen. Sie bevorzuge „hard swinging Jazz“, den „echten Jazz“ schreibt sie, liebe Orgel-Trios wie von Jimmy Smith, Jack McDuff und Jimmy McGriff, gern auch mit einem heißen Saxophonisten wie Arnette Cobb. Tatsächlich hat sie schon früh als ihre Vorbilder am Klavier Fats Waller, Teddy Wilson, Errol Garner genannt.
In diesem Punkt widerspricht Ilona Haberkamp, selbst Altsaxophonistin mit einem eher coolen Sound, Jutta Hipps späterer grundsätzlicher Ablehnung des Cool Jazz, den sie selbst ja hervorragend gespielt hat. Es war „gerade dieser Jazz-Stil, der sich in der deutschen Jazzszene höchste Anerkennung verschafft und somit Jutta Hipp zum Durchbruch ihrer Karriere in Deutschland verhilft und sie bis nach New York bringt“. Hipps großes Können als Jazzpianistin kämen besonders zur Geltung auf ihren Trio-Einspielungen vom 13. und 24.4. 1954: „Two Oranges“ (d. i. „Lover Man“), „Diagram“, „Don’t Worry About Me“ und last not least in einer herausragenden cool-version von „What’s New“ (alle auf CD 2 der Box „Jutta Hipp And Her Jazzmen“). „Ohne Zweifel“, schreibt Haberkamp, „ist das Meisterwerk dieser Einspielung ‚What’s New‘, eine kontrapunktisch angelegte Improvisation des Jazzstandards, in dem das ursprüngliche Thema nicht zu Wort kommt, aber Jutta Hipp ihren ganz persönlichen Stil in faszinierender Weise zum Ausdruck bringt.“
Diese Version von „What’s New“ erscheint mit anderen Stücken dieser beiden Plattensessions auf der ersten Blue Note-Platte mit deutschem Jazz in den USA, unter dem Titel „New Faces – New Sounds From Germany: Jutta Hipp And Her Quintett“. Diese Veröffentlichung hat wahrscheinlich der prominente Jazzpublizist und –promoter Leonhard Feather veranlasst. Er war es auch, der Jutta Hipp 1954 in einem Jazzclub in Duisburg aufspürte und zur Übersiedlung nach Amerika überredete. Sie ist 30, als sie Ende 1955 in New York eintrifft. Im Mai hat sie auf dem 3. Deutschen Jazzfestival in Frankfurt mit ihrem Quintett noch viel Beifall eingeheimst, gerade auch mit ihrem Solo „Indian Summer“. Den Fans war bekannt, dass dies wohl ihr letzter großer Auftritt vor der Abreise sein würde.
Während der ersten Wochen in Big Apple ist sie begeistert von der Stadt und der lebhaften Jazzszene. In Briefen und Zeitungsartikeln schwärmt sie von den vielen berühmten Jazzstars, denen sie begegnet. Sie trifft den charmanten Errol Garner, ihr früheres Vorbild, „der ein paar Sachen für mich“ spielte, hört Miles Davis, der sie fürs Erste enttäuscht, später aber begeistert, lauscht „sprachlos“ Count Basie. Da die Arbeitserlaubnis noch auf sich warten lässt, jobbt sie in der Packabteilung eines Kaufhauses für 50 $ Wochenlohn. Im März 1956 erhält sie auf Vermittlung ihres Förderers und Managers Feather einen Sechsmonatsvertrag im „Hickery House“, einer Bar mit Restaurant, in der a u c h Jazz live geboten wird. Für ein festes Gehalt nimmt sie in Kauf, dass die meisten Gäste sich mehr um ihr Essen und Trinken und weniger um die live Musik kümmern. Aber mit dem britischen Bassisten Peter Ind und dem jungen schwarzen Drummer Ed Thigpen hat sie zwei exzellente Sidemen gewonnen, und das Spielen macht ihr Spaß.
Feather sorgt dafür, dass am 5. April 1956 im Hickery House 20 Titel live aufgenommen werden. Sie erscheinen auf zwei LPs „Jutta Hipp at the hickery house“ Vol I & II bei Blue Note, eine große Auszeichnung, denn sie ist die erste weiße Pianistin auf diesem legendären Label (in der Box auf den CDs 4 und 5). Am 28. Juli wird sie mit Ed Thipgen, Ahmed Abdul-Malik b und Jerry Lloyd tp in das Van Gelder Studio in Hackensack eingeladen, um eine Platte mit dem Tenoristen Zoot Sims aufzunehmen. Auch sie erscheint bei Blue Note, zwar unter ihrem Namen, aber Sims, in blendender Form, dominiert die Platte derart, dass Jutta Hipp kaum Gelegenheit für eigene Soli bekommt. Dafür hatte sie zuvor ausreichend Gelegenheit beim Newport Jazz Festival am 5. Juli, wo sie ihren mit viel Beifall bedachten Auftritt wegen sintflutartigen Regens auf drei Titel beschränken musste, auch hier „Indiana“ und eine schöne erdige Version des St. Louis Blues. Diese bisher unveröffentlichte Aufnahme findet sich ebenfalls auf der CD 5.
Durch den Einfluss des von ihr bewunderten Horace Silver und den aufkommenden Hard Bop wandelte sich auch Jutta Hipps Stil. Sie spielte jetzt swingender, rhythmischer, percussiver. Die langen Linien und perlenden Läufe verschwinden. Das gefällt nicht allen, die sie als Cool Jazz Pianistin geschätzt haben. Nat Hentoff, neben Feather der einflussreichste amerikanische Jazzpublizist, kritisiert, dass sie zu schnell ihren persönlichen Stil aufgegeben und sich Horace Silver angenähert habe. Später, nach ihrem Zerwürfnis mit Feather, kritisiert dieser sie ebenfalls. Auch der deutsche Jazzpapst und Cool Jazz-Enthusiast J. E. Berendt schließt sich dieser Kritik an und versteigt sich zu dem Urteil: „Der alten sensitiven Jutta hat der Swing gefehlt, aber sie war eine Persönlichkeit. Die neue Jutta hat swing, aber sie spielt wie eine von vielen.“ Er hatte wohl nicht mit bekommen, dass auch in Deutschland namhafte Musiker wie Michael Naura und Wolfgang Schlüter dem Cool Jazz entsagt hatten und eine härtere, vitalere, auch emotionalere Gangart vorlegten. Warum sollte es der Deutschen in New York, die mitten im Geschehen lebte und spielte, nicht erlaubt sein? Wer weiß, wie sie sich noch entwickelt hätte, wären die Umstände ihres Lebens in jener Phase günstiger gewesen.
Was aber von Jutta Hipp bleibt, sind die – trotz ihres Einwands – wunderbaren Soli aus der deutschen Cool Jazz Epoche – und ihre Pionierrolle für alle nachfolgenden „Frauen im Jazz“, die es heute im Vergleich doch einfacher haben. Es lohnt immer noch und immer wieder, sich mit Jutta Hipp zu beschäftigen. Dazu bietet „The Life And Art of Jutta Hipp“ ausgezeichnetes Studienmaterial. Der Preis von 149,99 € ist hoch, aber durch den Gegenwert gerechtfertigt.