Jazzfest Berlin 2015 – Splitter Orchester, Cécile McLorin Salvant und Vincent Peirani

Mit dem neuen Mann in der Programmierung des Jazzfests Berlin kehrt auch ein neuer Wind ein, oder ein frischer Besen. Die Erwartungen sind also groß. Wie dreht der Sportjournalist Richard Williams die Sache? Wohin geht die musikalische Reise? Die Augen groß, die Ohren spitz.

Mit seinem ersten Abend hat er schon mal einige Ecken des Jazzlebens ausgefüllt. Es war eine Reise in die Gegenwart, gesättigt mit einer Vergangenheit, die man nicht nostalgisch beschwor.

*) Alle Fotos stammen vom HuPe-kollektiv (mehr dann sicherlich bald dort), zu 99 Prozent von Petra Basche.

Zettelwirtschaft

Das Splitter Orchester besteht aus 24 MusikerInnen, die aus der Szene freier Improvisation kommen. Der Posaunist George Lewis komponiert für dieses Ensemble ein „Creative Construction Set“, eine Uraufführung. Gesteuert haben sich Musiker untereinander, in dem sie Zettel mit Spielanweisungen von Zeit zu Zeit anhoben. Das Verfahren ist bekannt und wirkt nach außen leider wenig sexy. Vor allem droht ein heilloses Klangchaos bei 24 Mitspielerinnen. Dass es dazu nicht gekommen ist, ist der weisen „Construction“ von Lewis zu danken und der hervorragenden Klangkunst der einzelnen MusikerInnen. Dünne Passagen mit ordentlich Luft waren ebenso in den knapp 40 Minuten zu hören wie fetter Krachpassagen. Das Ganze war durchaus angenehmer zu hören als zu sehen, also wenn man sich vom Geschehen hörend mitziehen ließ. Dass es dabei mitunter rhythmisch im Einzelnen grober zuging, ist, scheint es, unvermeidlich. Es blieb immer die Hoffnung, dass sich das alles dann doch ausdifferenziert. Ein wenig war die Musik dabei wie in einer Glaskugel eingekapselt, die Halbdemokratie der Zettelwirtschaft hat eben ihre Zwänge. Am Ende des Sets schien vor allem George Lewis selbst überrascht und zuckte, offensichtlich überrascht, mit den Schultern.

Das war ein bisschen Hörloch-Musik, die Länge war ja durch die Organisation des Abends vorgegeben, nicht zwingend, eher beliebig – und das ist ästhetisch gesehen etwas unbefriedigend: Freiheit, Zwang und Willkür schlossen nicht zum Definitivergebnis zusammen. So ernst ist das doch alles auch wieder nicht. Egal …

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Beim Cécile McLorin Salvant Quartet tat sich eine ganz andere Welt auf. Das Quartett um die Sängerin ist keine Begleitband für den facettenreichsten Jazzgesang, den man sich aktuell wünschen kann. Cécile McLorin Salvant kann alles singen, vibratolos den Ton aus sich herausschieben, trockenes Getön und gesungener Schrei. Mit eigenen Stücken und mit Standards, alles einerlei. Ein Griff zurück in die Work Songs gelingt dabei ebenso glaubhaft wie musikalisch reich. Und immer dabei das Quartett als Ganzes als Gesamtkomposition. Das machte einen Staunen, aber eben nicht atemlos sondern zugleich so lässig wie das Jackett, das der Schlagzeuger an seiner Batterie anhängte. Auf der großen Bühne des Hauses der Berliner Festspiele entwickelte sich schleichend so etwas wie Clubatmosphäre. Da war Innigkeit, war Zauber, war Introvertiertheit, war Expressivität, war Bann!

Das alte Song-Material verströmte Wärme, Beziehung, wirkte ganz heutig. Nur manchmal, dann und wann, schien ihr Können den Weg zu versperren. Da ist zu viel Möglichkeit drin, dass sie sich selbst damit zu erschlagen droht.

Mediterran-Rock entrückt – Vincent Peirani

Mit den ersten Tönen fühlt man sich in die 70er und 80er Jahre zurückgeschlagen. Eine Rocknummer, mit Folkmusik verfüllt, danach frei Dissoziation, zerfahrenes Kleinklein, das sich erst wieder zusammenbauen muss. Das Quintett um den Akkordeonisten Vincent Peirani und den Sopransaxophonisten Emile Parisien kam danach nicht mehr zur Ruhe, sein Instrument wirkte zeitweilig wie eine Waffe. Eine ultraschnelle Postrockmusik spulte sich da ab, die Musiker wirkten wie auf Speed, wie unter Drogen. Émile Parisien sprintete durch seine Soli mit einer schier unglaublichen Virtuosität, haltlos, fast irre. Darunter klebten Harmoniestrukturen wie man sie in postmodernen Musikarchitekturen von Art Zoyd oder die Belgier von Tuxedomoon zu kennen glaubt. Dann wieder wendet sich das Ganze in arabische Gefilde, die nicht weniger dicht sind, dann zwischendrin immer wieder auch mal eine innige Klangpassage zwischen Peirani und seinem Mann am Fender Tony Paelemann. Polyrhythmik ruckelt dazwischen und lässt das Geschehen oszillieren. Das geht ab wie ein Wasserfall, der immer tiefer und tiefer fällt und kein Ende findet – es geht immer noch mal neu los, gegen die musikalische Schwerkraft. Es ist Musik, die sich selbst andauernd zu überholen scheint, eine Raserei. (Auf der entsprechenden Platte „Living Being“ mit den gleichen Stücken und Musikern hat man nicht annähernd ein ähnliches Erlebnis.)

Wasserfall, Feuerwerk? Ich weiß nicht. Und doch zugleich eine Musik zum Träumen, so komisch es klingen mag. Ja, sie donnert nicht nur über das Parkett, sie lässt einen auch dämmern. Rasant, rapide.

Resumé

Richard Williams eröffnet das Jazzfest Berlin 2015. Foto: Petra Basche
Richard Williams eröffnet das Jazzfest Berlin 2015. Foto: Petra Basche

Drei verschiedene Welten wurden an diesem Abend zusammengebunden, jede schien wie mit einer Zeitmaschine aus vergangenen Epochen in die Jetztzeit hineingeschossen und sich aktuell zu beleben. Das fordert die Zuhörer, es nimmt sie aber ebenso gefangen. Keine Ahnung, ob Richard Williams das alles auf dem Schirm hatte – topographisch berührten sich die Südstaaten mit dem Mittelmeer und mit Moers. Ich glaube, letztlich waren da alle ein wenig überrascht, wie gut das im Zusammenhang funktionierte.

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