Ulf Drechsel eröffnete den letzten Tag des 52. Jazzfests Berlin mit einem Hinweis auf die Situation der Flüchtlingsbewegungen der Gegenwart. Er verwies auf die Mitverantwortung des Westens daran, was sich an Tragödien abspielt. Jazz steht auch in politischer Verantwortung.
Danke für diese Worte, Ulf Drechsel. Damit konnte er überleiten zum ersten „Projekt“ des Abends, dem Diwan der Kontinente.
Klangfarbenzauber: Diwan der Kontinente
Das Ensemble aus 24 MusikerInnen vereinte ca. 9 Nationen und Instrumente, die in dieser Kombination wahrscheinlich noch nie zusammenspielten. Darunter Koto, Duduk, Guzheng, Sheng, Hulusi, Streicher, Oboe, Posaune, Kawala, Marimba- und Vibraphon, Kontrabaß, Saxophone, Stimmen, Baßklarinette, Kanun, Ney, Oud, Drumset … und Stimmen aus drei Sprachen. Cymin Samawatie und Ketan Bhatti zeichneten für die Komposition verantwortlich, Samawatie dirigierte und sang, während von hinten Bhatti am Drumset rhythmisch die Sache ordnete.
Alle Fotos von Petra Basche / HuPe-kollektiv.
Man hätte jetzt eine wabbelige Musiksülze erwarten können, aber da täuscht man sich. In Wirklichkeit tat sich aber eine Kompositionsidee auf, die an eine Kantate erinnerte. Reine Instrumentalteile wechselten mit „Liedern“ sich ab. Das wurde den MusikerInnen auf den instrumentalen Leib geschrieben. Zusammengehalten wurde alles durch einige Repetitionsmuster, die schon mal wie bei einer isorhythmischen Motette ausschauten, wo sich Melos und Rhythmik ineinander verschieben – da passten auch zum Beispiel die unter anderem eingesetzten Texte von Rumi in die Zeit von wo aus sie in die Gegenwart sich katapultierten. Dann wiederum gab es Tutti-Passagen, die klangen, als wälzte sich eine Musikraupe wie ein Klangorganismus durch den Raum. Klangfarbenmischungen gab es, die nur in einer solchen Besetzung zu hören sind – nicht als Effekt sondern aus dem Material heraus.
Die nicht so einfache Aufgabe haben Cymin Samawatie und Ketan Bhatti gelöst: Musik einer Welt und eben keine Weltmusik, die dann eher wie eine imperalistisch zugestellte Provinzmusik klingt.
Feier der Freiheit: Louis Moholo-Moholo Quartet
Noch bevor die Musiker des Quartetts ihre Plätze eingenommen hatten, war da ein energetisches Kraftwerk in Betrieb genommen, das den ganzen Auftritt über nicht nachließ. Die Sache war recht einfach: Um musikalische Zielpunkte, die wohl aus der musikalischen Welt Südafrikas stammten, gerne hymnisch, harmonisch volltönend – mit Alexander Hawkins (Klavier) und John Edwards (Kontrabaß) – wirbelten Jason Yarde an Alt-, Sopran- und Baritonsax sowie dem vergleichsweise kleinen Drumset Louis Moholo-Moholo Einfall für Einfall. Sie feierten das Musikmachen, sangen dazu, riefen sich Kommentare zu – ganz und gar in der Musik sein! Das war ein mitreißendes Fest aus Musik. Musiker, die ihre Sache verstehen, lieben und leben. „You ain’t gonna know me ‚cos you think you know me” – auch auf der Aufnahme von 1978 “Spirits Rejoice” war eines dieser in den Exzess getriebenen Stücke.
Da rollten vor Entzückung auch Tränen bei Louis Moholo-Moholo. Es war ein grandioses Spektakel, bei dem niemand irgendwem etwas beweisen musste. Tradition in Freiheit: Groove, Chanson, losgelassene Musik. Da hatte jeder seine Impulse setzen können, auch wenn Jason Yarde manchmal zu sehr plapperte. Ekstase mit vollem Bewusstsein und zugleich kontrolliert. Freunde! Das war die beste Musik, die mir seit ewig in die Ohren geblasen worden ist. Mein persönlicher Höhepunkt des Jazzfests Berlin 2015.
Schwingungsfrei: Ambrose Akinmusire Quartet mit Theo Bleckmann
Zum Ambrose Akinmusire Quartet mit Theo Bleckmann möchte ich eigentlich nicht viel sagen. Deren Auftritt begann unvergleichlich schön mit dem wärmsten Trompetenton, den ich jemals in meinem Leben gehört habe und er endete mit der zweiten Zugabe „In a Sentimental Mood“ ganz zurückgenommen, ganz besinnlich schön. Über die Musik dazwischen möchte ich den Schleier des Schweigens legen; ich akzeptiere das als schlechte Tagesform.
Resumé
Für Richard Williams, den künstlerischen Leiter des 51. Jazzfests Berlin, ist die Rechnung aufgegangen. Es war sein allererstes Festival überhaupt, das er programmiert hat. Dabei hat er ein musikalisches Netz aufgespannt, das in dieser Form nur ein Brite ohne Netzwerkverpflichtung machen kann. Jazz bleibt immer ein Risiko, wenn denn Jazz etwas von seinem Wesenskern behalten will. Musiker aus ca. 30 Nationen ließen dieses Risiko schillern. Wie das im nächsten Jahr aussehen wird? Abwarten und Tee trinken.