Von Dietrich Schlegel – Die künstlerischen Möglichkeiten der Großformationen im Jazz scheinen noch lange nicht ausgeschöpft. Überzeugende Beispiele liefern etwa Lars Seniuks New German Art Orchestra oder die Monika Roscher Big Band. Und nun erregt fünf Jahre nach ihrem Debüt mit „Panta Rhei“ (JazzZeitung 04/2011) die Kölner Saxophonistin, Komponistin und Bandleaderin Caroline Thon (48) mit ihrem Thoneline Orchestra erneut berechtigtes Aufsehen. Für die zweite CD mit ihrer Big Band unter dem aufs erste rätselhaften Titel „Black & White Swan“ hat sie sich bewusst Zeit gelassen, denn sie ist eine gründliche und selbstkritische Komponistin und Arrangeurin. Zudem ist das Thoneline Orchestra nicht ihr einziges, wenn wohl auch ihr ehrgeizigstes Projekt. Gerade erst hat sie mit ihrem Ensemble „Eurasians Unity“ beim TFF Rudolstadt, dem größten deutschen Festival für Roots, Folk und Weltmusik, den Weltmusikpreis RUTH 2015 für „Praktizierte Völkerfreundschaft auf hohem künstlerischen Niveau“ erhalten. Diese bemerkenswerte Band, ursprünglich als Festivalprojekt von „Women in Jazz“ entstanden, vermittelt „Jazz aus der eurasischen Mitte“. Sie besteht – mit Ausnahme des aus Polen stammenden Schlagzeugers und des deutschen Bassisten – aus Musikerinnen aus Bulgarien, Libanon, Iran, Usbekistan und Deutschland.
Caroline Thon eröffnet das neue Album mit „Thone Line“, einer Hommage an ihre Band, die sie, wie sie mit berechtigtem Stolz hervorhebt, über den langen Zeitraum bis auf vier Umbesetzungen unverändert zusammenhalten konnte. Ein Beweis für das enge Vertrauensverhältnis, das zwischen ihr und den überwiegend jungen Mitgliedern des Orchesters angewachsen ist. Dieser Umstand erleichtert beiden die Erarbeitung ihrer nicht immer leicht zu spielenden Kompositionen und Arrangements. Bei kunstvoll verschränkten Bläsersätzen mit abwechslungsreicher Rhythmik entspricht dieser Opener noch am ehesten traditionellem Big Band Setting. Wie auch Seniunk nutzt Thon die klassische Big Band Besetzung, ergänzt diesmal nur durch ein Keyboard. Umso erstaunlicher und bewundernswerter, welch fesselnde Klangbilder bis hin zu faszinierenden wahren Klanggemälden sie mit diesem Instrumentarium entstehen lässt.
Noch geht es aber vergleichsweise sanft zu. Im zweiten Take „Deep Diving“ erzählt Caroline eine Liebesgeschichte, die sowohl – wie sie im Gespräch formuliert – „die Wonne des Eintauchens beim Sprung ins Wasser als auch die aufkommende Bedrohung in je tieferer Tiefe widerspiegeln soll, in übertragenem Sinne aber auch die emotionale Tiefe einer persönlichen Begegnung“. Erklang hier schon die Stimme der mehrfach ausgezeichneten Vokalistin Filippa Gojo, einem festen Bandmitglied, so wird bei ihrer eigenen, von Caroline arrangierten Komposition „Seesucht“ die bildliche Vorstellung glasklaren Wassers in dem besungenen Bergsee durch ihre wunderschöne Stimme zu einem zugleich akustischen und optischen Sehnsuchtstopos.
Der Übergang zum nachfolgenden Titelstück „Black & White Swan“ ist hart, aber entspricht der geplanten Dramaturgie, weiß und schwarz ungefiltert nebeneinander zu setzen. Der Schock ist beabsichtigt. Die ungewöhnliche Struktur der Komposition reflektiert die emotionale Reaktion der Komponistin auf die allgegenwärtige Gewalt in unserer heutigen Welt, die Aggressivität und Energie, die Menschen dazu bringt, anderen Leid zuzufügen, sie inmitten unserer Gesellschaft zu ermorden, sie in unsinnigen Kriegen zu töten. Unbeabsichtigt eine höchst aktuelle Apokalyptik! Caroline Thon erläutert den Titel des Stücks und damit der ganzen CD: „Der Film ‚Black Swan‘ hat mich sehr beeindruckt, vor allem die Verkörperung der weißen u n d der schwarzen Seite eines Menschen durch dieselbe Schauspielerin, die wunderbare Natalie Portman. Diese Doppelnatur des Menschen erschreckt mich. Ich suchte nach ganz bestimmten Klängen, die das auszudrücken vermögen. Ich wollte etwas ganz Scharfes, Schneidendes hervorbringen, Klänge, die ich so noch nie verwendet und mich zu schreiben getraut hatte.“ Es ist, wie sie es selbst formuliert, eine Art „Kriegsstück“ entstanden, in dem Musik in brachiale Geräusche ausufert, Schrecken und Erschrecken vermittelnd, unter Einsatz des gesamten Instrumentariums und zusätzlich verstärkt durch die eindringliche Stimme des Vokalisten Markus Weckermann. „Doch am Ende“, so Thon, „scheint so etwas wie Hoffnung auf einen neuen Anfang auf, wie nach der zeitlichen Überwindung der Katastrophe bei den Überlebenden eines Krieges oder eines Amoklaufs.“
Wie eine aus diesem hoffnungsvollen Ausblick entstehende Nutzanwendung setzt Thon ein weiteres Liebeslied ein, diesmal aber nicht für einen bestimmten Menschen, sondern „gewidmet all denen, die trotz seelischer Blessuren immer wieder mutig genug sind, ihr Herz anderen Menschen gegenüber zu öffnen“. Kommt hier die philosophische, die philanthropische Seite der dem tibetischen Buddhismus zuneigenden Caroline Thon zum Ausdruck, so dringt beim folgenden Stück „Is it you?“ die Klangtüftlerin in den Vordergrund. Angeregt durch Charles Ives‘ Komposition „Unanswered Questions“ habe sie hier versucht, Klänge umzusetzen, die mit Big Band eigentlich nicht zu realisieren seien. „Diese ganz leisen und zarten, ziselierten Streicherklänge und die Trompetenstimme in einer ganz anderen Tonart und Rhythmik sind auf eine klassische Big Band Besetzung schwer übertragbar. Aber da ich Ives‘ Komposition liebe und sie unbedingt auf meine Art adaptieren wollte, suchte ich nach anderen klanglichen Möglichkeiten – und so kam ich darauf, meine Musiker mit Papier rascheln zu lassen. Aber das ist nur die Einleitung, auch danach geschieht noch manch Überraschendes und Ungewöhnliches.“ Das kann der Hörer nur bestätigen, und zugleich bewundern, wie die Bandmitglieder voller Hingabe die kompliziertesten Passagen ausspielen.
Nach diesem orchestralen Wunderwerk klingt die CD in das eher leichtfüßige Stück „Kolysanka“ von Alexander Morsey aus, ursprünglich als Schlaflied gedacht, jedoch von Caroline, immer für eine Überraschung gut, in das Gegenteil verkehrt, nämlich in eine lustig-luftige Party, in der die Band allerhand Allotria treiben darf. Somit wird der Hörer – welch gelungene Dramaturgie! – zum Schluss dieser kunstvoll komponierten, großartig von Ensemble und Solisten gespielten CD mit einem Schuss positiver Energie entlassen.
Line-up des Thoneline Orchestra – Reeds: Malte Dürrschnabel, Johannes Ludwig, Stephan Mattner, Jens Böckamp, Norbert Emminger; Trumpets: Steffie Deckers, Matthias Knoop, Menzel Mutzke, Matthias Bergmann; Trombones: Raphael Klemm, Tobias Wember, Ben Degen, Wolf Schenk; Piano: Laia Genc; Bass: Sebastian Räther; Schlagzeug: Jens Düppe; Keyboards: Nils Tegen; Guitar: Andreas Wahl; Vocal: Filippa Gojo; comp., cond.: Caroline Thon; Guest Vocal: Markus Weckermann; Guest Horn: Odilo Clausnitzer.
Die CD Thoneline Orchestra: „Black & White Swan“ erschien am 4. Oktober bei ENJA/Yellowbird. Das Release-Konzert findet am 27. September im Kölner Stadtgarten statt. Die Produktion wurde unterstützt von der Kunststiftung NRW, das Release-Konzert sowie weitere Gastspiele vom Land Nordrhein-Westfalen.
Lauschangriff auf Caroline Thon im Silberhorn Magazin hier