Der Lösungsansatz liegt vermeintlich auf der Hand, er war in der einleitenden Folge dieser Blogserie bereits Thema und taucht in Audience-Development-Diskussionen meist an erster Stelle auf: Der Jazz hat Nachwuchsprobleme auf der Publikumsseite, also muss man ihn dem Nachwuchs dort nahebringen, wo er nicht weglaufen kann – in der Schule.
Nur wird das bereits seit Jahrzehnten getan, ohne dass der Erfolg so messbar wäre, dass sich die Diskussion erübrigen würde. Abgesehen davon, dass Kurt Ellenberger Recht hat, wenn er schreibt: „A human being is not a piece of clay that can be so easily molded to provide us with a ready-made audience member – you can lead children to ‚Water Music‘, but you can’t make them love it“, trifft der Wunsch nach mehr Jazz in den Schulen auf etliche systembedingte Schwierigkeiten, die ich im Folgenden skizzieren werde.
Zunächst einmal ist Bildung in Deutschland Ländersache, es gibt also nicht einen, sondern 16 Lehrpläne, die sich mitunter grundlegend unterscheiden. Während in Bayern konkrete Unterrichtsinhalte für jede Klassenstufe ausformuliert sind und Jazz in der Oberstufe mehrfach Thema ist, kommt im Kernlehrplan Musik des Landes NRW das Wort „Jazz“ gar nicht vor – was schlicht daran liegt, dass keine konkreten Inhalte vorgeschrieben, sondern nur übergeordnete Kompetenzerwartungen („Rezeption“, „Reflexion“, „Produktion“) und generelle inhaltliche Schwerpunkte (z.B. „Musik in Verbindung mit Sprache“, „Stilmerkmale“, „Musik und Bühne“) formuliert werden. Damit liegt die Verantwortung für die tatsächlichen Unterrichtsinhalte bei der Fachgruppe Musik jeder einzelnen Schule. Dort wird ein Lehrplan mit konkreten, aufeinander aufbauenden Inhalten entworfen – sofern die Kommunikation der Musiklehrer untereinander hinreichend gut ist. Welchen Platz der Jazz darin findet und wie gut beziehungsweise wirkungsvoll er den Schülern nahe gebracht wird, hängt also vom Kenntnisstand, der pädagogischen Kompetenz und gegebenenfalls den persönlichen Neigungen der jeweiligen Musiklehrer ab.
Wenn wir über „mehr Jazz in die Schulen“ reden, können wir daher nicht über eine zentralisierte Initiative von oben nach unten nachdenken, sondern brauchen womöglich 16 unterschiedliche Strategien, welche im „ungünstigsten“ Fall die individuellen Lehrinhalte sämtlicher Musiklehrer des jeweiligen Bundeslandes berücksichtigen müssen.
Doch damit nicht genug. Der Musikunterricht findet in der Sekundarstufe 1 meist im Wechsel mit dem Kunstunterricht, also jeweils nur halbjährig statt. Zudem gilt in vielen Bundesländern das G8-Modell (Abitur nach 12 Jahren), es fehlt also gegenüber der jahrzehntelang üblichen G9-Regelung ein ganzes Schuljahr im Mittelstufenbereich.
Nun könnte man argumentieren, dass Jazz im tiefergehenden Sinne eher ein Thema für die (nach wie vor ungekürzte) Oberstufe wäre und das Zentralabitur gar die gewünschte bundesweite Erreichbarkeit liefern könnte. Für geneigte Jazz-Lobbyisten dürfte dieser Teil des Schulsystems aufgrund seiner direkteren Steuerbarkeit von besonderem Interesse sein. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass in den fünf, maximal sechs halben Jahren zuvor mit anderthalb Stunden Musikunterricht pro Schulwoche nur wenig Zeit vorhanden ist, um flächendeckend solide Vorbildung zu garantieren.
Musik-Leistungskurse sind eher rar gesät – in NRW belegen pro Jahr etwa 100 bis 150 Schüler dieses Leistungsfach, es gibt also nur circa 10-15 Kurse im ganzen Bundesland. Die meisten Schüler in Musik-LKs musizieren bereits selber; selbst wenn erst durch den Leistungskurs ihr Interesse an Jazz geweckt wird, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie anschließend selber Musiker werden wollen und nicht „nur“ begeisterte Zuhörer.
Ein weiterer Faktor, der bedacht werden muss, ist, dass Schüler benotet werden. Damit ihre Leistungen überhaupt benotet werden können, müssen sie nicht nur etwas wissen oder verstehen (rein in den Kopf), sondern auch konkrete Arbeitsergebnisse produzieren (raus aus dem Kopf). Dieser Zustand ist im Bereich Jazz über ein gewisses Grundmaß heraus nicht leicht zu erreichen, weshalb mir die Strategie, über die Schuljahre möglichst viele kleine Anknüpfungspunkte für Jazz an verschiedenen Stellen im Musikunterricht zu finden, sinnvoller erscheint als beispielsweise die Konzentration auf Jazz als thematischen Schwerpunkt einer bestimmten Klassenstufe. Raum für Entwicklungen gibt es allemal, in vielen Schulbüchern fristet der Jazz nach wie vor ein trauriges Nischendasein oder steht als isoliertes Kapitel da, anstatt mit vielen denkbaren Oberthemen (Improvisation, Stilvermischungen, Musik und Rassismus…) verknüpft zu werden.
Wenn Schüler bereits jazzaffin sind oder selber Jazz spielen, dann meist aus schulexternen Gründen: Instrumentalunterricht (privat oder an einer Musikschule), die Plattensammlung der Eltern, ein Freund oder Familienangehöriger, der Jazz spielt…
Wenn Lehrer keine positive emotionale Verbindung zum Thema Jazz haben, wird es ihnen schwerer fallen, ihre Schüler dafür zu begeistern. Mit etwas Glück schafft es das ausgewählte Musikbeispiel von ganz alleine, aber je mehr Anknüpfungspunkte der Schüler an die Hand bekommt, desto besser stehen die Chancen.
Ein befreundeter Lehrer erzählte mir kürzlich, dass seine Schüler stets jene Unterrichtsinhalte am besten erinnern würden, bei denen sie selber kreativ waren, also beispielsweise in der Gruppe ein Arrangement erarbeiten mussten.
Das unmittelbare Involviertsein in einen kreativen Prozess, das musikalische Gemeinschaftserlebnis, die direkte „Ansteckung“ im positiven Sinne von Mensch zu Mensch – diesen Faktoren scheint eine zentrale Rolle zuzufallen.
Daher: mehr Jazz in die Schulen? Immer gerne! Aber nur mit ganz konkreten inhaltlichen Vorschlägen, was wir warum, wann, wie und durch wen* vermitteln möchten, und ohne allzu hohe Erwartungen daran zu knüpfen.
* (Ein Ansatz könnten externe, pädagogisch aufgearbeitete Workshops mit Jazzmusikern an den Schulen sein. Falls die Schule das aus eigenen Mitteln nicht finanziert bekommt, hilft vielleicht eine private oder öffentliche Initiative?)